Leipzig. Manchmal muss man eben auch mal was riskieren. Erst recht, wenn man auf einmal vor einem waschechten Dornröschenschloss steht, das eigentlich nur darauf wartet, wachgeküsst zu werden. Ja, genau dies ging Professor Markus Löffler damals durch den Kopf, als er gemeinsam mit seinem Mitstreiter Ulrich Maldinger vor dem ehemaligen Kraftwerk stand.
„Das war wirklich alles eine einzige Brache“, erinnert er sich: „Und die Rosen waren das Unkraut, das überall auf dem Hof und am Gebäude wuchs.“ Inzwischen hat das markante gelbe Gebäude auf der einen Seite nichts vom historischen Charme verloren, ist aber andererseits als Kunstkraftwerk ein ganz wichtiger, weil außergewöhnlicher Standort der Leipziger Kulturszene. Einer, an dem sich die digitale Moderne und das gelebte Leipziger Traditionsbewusstsein begegnen – ebenso wie die unbedingte Internationalität mit einer Offenheit auch für all jene, die gerade mal einen Steinwurf entfernt wohnen vom früheren Betriebsgelände der Leipziger Straßenbahnen. Denn diesen Punkt hebt Prof. Markus Löffler hervor: „Von Anfang an war diese Idee oberstes Gebot: Dies soll eine Stätte werden, die von Menschen, und zwar von möglichst vielen Menschen besucht wird. Und dabei haben wir in erster Linie auch an die Leipziger gedacht.“
Dabei – dies muss schon unbedingt erwähnt werden – hat er mit Kunst und Kultur auf den ersten Blick gar nicht so viel am Hut. Eigentlich ist Prof. Markus Löffler Wissenschaftler, genauer gesagt der Direktor des Leipziger Instituts für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie (IMISE) an der Medizinischen Fakultät der Uni Leipzig. Und damit ein Mensch, der stets nach Herausforderungen sucht – womit sich wieder ein Kreis schließt zu jenem Moment auf dem verfallenen Kraftwerkshof. „Irgendwann saß ich mit meiner Frau zusammen. Und mit der Frage: Was machen wir nun eigentlich mit dem, was wir mit den Jahren zusammengespart haben? Eine Eigentumswohnung kaufen und noch eine? Langweilig“, erzählt er mit einem Lächeln: „Da war ein Gedanke schnell geboren: Wir wollen etwas Abenteuerliches machen. Für uns und für andere abenteuerlich.“ Womit sich auch das Bild des „Dornröschenschlosses“ erklärt, das punktgenau zu Weihnachten 2012 mit eben jenem Abenteuer lockte: „Zusammen mit Ulrich Maldinger habe ich sofort gesehen: Dieses Ding mit dem klassischen Lost-Places-Feeling hat riesiges Potenzial.“
Wobei sich die Möglichkeiten irgendwie erst peu a peu herausschälten. Allein die Entdeckungstour durch das leer stehende Kraftwerk war ein Abenteuer für sich: „Wir haben beinahe einen Monat gebraucht, um alle Räume zu finden.“ Es war aber eben nicht nur ein Abenteuer im Raum, sondern auch im Geist. Mit einem stillen Lächeln blickt Prof. Markus Löffler auf jene Anfangszeiten zurück, auf die ersten Schritte, dieses gelbe Gebäude als Kunstkraftwerk mit Leben zu erfüllen. „Eines stand von Beginn an fest: Wir wollten das Haus mit einem unternehmerischen Ansatz führen“, nur der Weg zum künstlerischen Konzept war steinig und alles andere als gerade. Da war zunächst die Idee, internationale Kunst nach Leipzig zu bringen – ein Konzept, das erstaunlicherweise tatsächlich viele Kunstwerke in die Messestadt brachte, aber ziemlich an der interessierten Öffentlichkeit vorbeiging – was eben so überhaupt nicht im Interesse der Macher war.
„Andererseits hatten wir stets die Vorstellung, dass dieses Kunstkraftwerk ein Ort der Transformation werden soll – ohne, dass wir nun genau wussten, wie man dies erreicht“, überlegt der Kunstkraftwerk-Macher: „Irgendwie spielte da die Idee von digitaler und multimedialer Kunst, von Licht-Kunst, von Immersionen immer eine Rolle.“ Was die besondere Rolle vom Kunstkraftwerk in der Leipziger Kulturlandschaft erklärt – keine andere Einrichtung setzt derart zielgerichtet und fokussiert auf eine Kunstform, die in Deutschland immer noch bestaunt wird, aber in anderen europäischen Ländern längst etabliert ist. Das Eintauchen in eine künstliche Umgebung, vielleicht am besten mit den virtuellen Realitäten zu vergleichen. Angereichert mit der Vorstellung, diese auch unter künstlerischen Gesichtspunkten zu entwerfen.
„Mit der Hundertwasser Experience haben wir schließlich vor vier Jahren die entsprechende Tür aufgestoßen“, erinnert sich Prof. Markus Löffler. Und daran, dass da auf einmal auch die gewünschte und erhoffte Publikumsresonanz vorhanden war. Die breite Aufmerksamkeit in der Stadt Leipzig. Inzwischen kann er durchaus stolz und erfreut jene Ritterschläge aufzählen, die sein Kunstkraftwerk erhalten hat – von Volker Rodekamp und Prof. Martin Kürschner, dem ehemaligen Rektor der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“. Wobei sich Letzterer auch als wichtiger Ratgeber entpuppte: „Sein Tipp nach unserer Bach-Immersion: Zwischen den Bildern und der Musik müsse es eine Interaktion geben. Und dass man Bach eigentlich nicht darstellen kann. Als Wissenschaftler weiß ich, dass ich bei Kritik immer ganz genau hinhören muss.“ Inzwischen hat man im Kunstkraftwerk auch aus diesen Worten gelernt: „Jetzt hat Martin Kürschner zur letzten Eröffnung zu mir gesagt: Das ist prima, was Sie da gemacht haben.“
Was den Fokus auf „Boomtown“ richtet, auf jene vor einigen Wochen eröffnete neue immersive Produktion zur Leipziger Industriekultur, die sich eben über jenes Lob aus berufenem Mund freuen kann. Als erste eigene Produktion des Hauses mit historischem Bezug auf der einen Seite eine wahre Mammutaufgabe, die für Prof. Markus Löffler andererseits aber eben auch eine wahre Herzensangelegenheit war. „Ich lebe seit 1994 in Leipzig, ich fühle mich längst als Teil dieser Stadt“, erzählt er und ergänzt: „Auch wenn meine Frau gebürtige Italienierin ist, definieren wir uns längst als Leipziger.“ Da lag es eben nahe, dieser Heimat auch etwas zurückzugeben – in Form einer Produktion, die sich mit einem wichtigen Teil der Stadtgeschichte beschäftigt. „Zum Glück hatten wir den entsprechenden Aufruf der Stadtverwaltung mit Blick auf das sächsische Jahr der Industriekultur entdeckt“, sagt er mit einem Lächeln: „Zum einen sind wir mit dem Kunstkraftwerk ja gelebte Industriekultur. Und andererseits hat mich die Beschäftigung mit der neuen Produktion noch einmal ganz nah an meine Heimatstadt rangebracht: Ich habe da so viel gelernt – beispielsweise, dass Leipzig einst mal der Startpunkt für den Versandhandel war.“
Leipzig reinholen! Unbedingt ein wichtiges Motto – auch mit Blick auf eine mehr und mehr lebendigere, offenere Künstlerszene in der Stadt. Mit der Pilotenküche pflegt man einen regen und intensiven Austausch. „Den Raum für künstlerische Arbeit haben wir ja in Hülle und Fülle“, lädt Prof. Markus Löffler ein: „Auf dem Hof kann man beispielsweise so viel machen!“ Nach einem kurzen Überlegen spricht er über seine Sicht auf das Kunstkraftwerk als Teil von Leipzig: „Zum einen ergänzen wir mit unserem sehr spezialisierten Konzept die Szene der Stadt. Und andererseits können wir nur zu gern auch für andere da sein.“ Da ist es dann irgendwie auch wieder der Wissenschaftler, der da spricht – für den Vernetzung keine bloße Phrase, sondern permanent gelebter Alltag ist.
Vielleicht – so meint er nachdenklich – wäre dies wohl auch die größte, stärkste, intensivste Vision für das Kunstkraftwerk Leipzig: ein Ort sein, an dem das künstlerische und das wissenschaftliche Denken verschmelzen. Sich ergänzen und bereichern und möglicherweise sogar einen neuen, frischen Blick auf die Dinge der Welt eröffnen: „Dieses Streben nach dem Stimmigen gibt es sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft. Und beides ist ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Kultur – an dieser Verbindung kann man doch arbeiten.“
Nun, auf eines kann man sich verlassen – unter der Ägide von Prof. Markus Löffler wird diese Arbeit vorangetrieben. Beharrlich, zielstrebig, gerüstet mit Zuversicht und Mut. „Ich habe in meiner wissenschaftlichen Karriere so viele Projekte umgesetzt, bei denen man uns ein Scheitern vorhergesagt hat“, winkt er ab: „Mein Ansatz ist immer – lasst es uns versuchen.“ Was natürlich auch für diese Zeiten der Corona-Pandemie gilt – deren Auswirkungen auch das Kunstkraftwerk erreichten. Im Frühjahr, als man eigentlich daran dachte, endlich auch in unternehmerischer Hinsicht über den Berg zu sein. „Ach, die Wiedereröffnung im Mai – das war eigentlich kein Mut. Als Wissenschaftler, als Epidemiologe wusste ich da ja ganz genau, was ich tun musste, um den Besuch für alle sicher zu machen“, winkt er ab. Viel mutiger findet er es, inzwischen auch wieder ein wenig mehr eigenes Gestalterherz zuzulassen. Und sich vielleicht ein bisschen mehr darauf zu reduzieren, die Projekte im Kunstkraftwerk Leipzig eben nur noch anzustoßen.
„An der Begeisterung hat sich wirklich nix verändert – nur es gibt inzwischen keine Wochenenden mehr“, sagt er mit einem Lächeln, weiß dann aber eine schöne Geschichte zu erzählen: „Vor ein paar Wochen war ich als Bergsteiger auf einer Gletscherwanderung. Und als wir dann auf 4500 Metern Höhe auf dem Monte-Rosa-Gletscher standen, war dies ein unglaubliches Glückgefühl. Einige Zeit später wurde dann ,Boomtown’ eröffnet und für mich war es das zweite Monte-Rosa-Erlebnis innerhalb weniger Wochen. Was kann es Schöneres geben?“ Jens Wagner
Das Kunstkraftwerk Leipzig ist seit dem 27. September ein Partner der ArtFutura 2020 – dies ist ein internationales Festival für digitale Kultur und Kreativität. In den kommenden sechs Monaten werden in fünf separaten Programmen die neuesten Projekte aus den Bereichen 3-D-Animation, Motion Graphics usw. vorgestellt. Darüber hinaus ist man am 3. Oktober Kooperationspartner der Aktion „Berlin leuchtet 2020“. Im Haus kann man derzeit u.a. die Immersion „Boomtown – Leipziger Industriekultur“ sehen.
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