Es passiert täglich. Verlieren Kinder ihre Eltern oder Geschwister, bricht die bis dahin heile Familienwelt zusammen. Julia Enoch (37) und Katrin Gärtner (36) fangen die verletzten Kinderseelen auf. In ihrem 2017 gegründeten und von Angela Merkel kürzlich ausgezeichneten Verein „Wolfsträne“ e. V. versuchen sie Tränen zu trocknen und Lebenshilfe zu geben.
An den viel besuchten Leipziger Glücksbaum im Clara-Zetkin-Park hängen Menschen aus aller Welt Zettelchen mit ihren Wünschen, Träumen und Sorgen. Auch Julia und Katrin vom Verein „Wolfsträne“ e. V. nutzen das grüne Symbol für die Farben des Lebens. Die betroffenen Kinder schreiben in ein, zwei Sätzen auf, was sie bewegt, was ihnen auf der Seele brennt. „Wir möchten den Verlust einfach aus der Tabuzone holen“, erzählt Katrin Gärtner.
Sie spricht aus Erfahrung. Die Mutter starb, als die Tochter 14 war. „Ich stand mit meiner Trauer völlig allein da, fiel in ein schwarzes Loch, das mit den Jahren immer größer wurde“, erinnert sich die hauptberuflich in der Kinderintensivpflege Tätige. Als sie im vergangenen Jahr ein kleines Mädchen kennenlernte, das gerade seine Mutter verloren hatte, erkannte sich Katrin in der Orientierungslosen wieder. „Und ich wollte ihr unbedingt helfen, damit sie nicht etwa das Gleiche durchmachen muss“, begründet die gebürtige Leipzigerin die Gründung von „Wolfsträne“.
Bei ihrer Vereinsarbeit traf sie auf Julia Enoch, die für ihre Tochter Rat suchte, nachdem ihr Vater gestorben war. Beide Mittdreißigerinnen verstanden sich sofort und spürten, dass sie gemeinsam viel bewegen können. Seitdem sind sie nach Feierabend unermüdlich für den noch jungen Verein unterwegs. Im Mittelpunkt stehen dabei die nach Alter zwischen sechs und 21 Jahren gestaffelten Trauergruppen, in denen gemeinsam geweint und gelacht, geredet und geschwiegen wird.
„Zwei Mitarbeiter betreuen jeweils sechs Kinder und Jugendliche, die beispielsweise fragen dürfen, wie es ist, tot zu sein, und was das bedeutet“, beschreibt Katrin. Sie selbst ist eine der Trauerbegleiterinnen, von denen es bei „Wolfsträne“ inzwischen acht gibt. „Wir suchen aber ständig interessierte Ehrenamtliche, die von uns durch eine Trauerakademie professionell geschult werden.“ Rituale wie ein Picknick unter dem Glücksbaum oder eine Feuerzeremonie ergänzen die Vereinsarbeit.
Sie erfordert Einfühlungsvermögen und vor allem Mut, meinte kürzlich Angela Merkel bei der Laudatio anlässlich der startsocial-Bundespreisverleihung in Berlin. Unter 300 sozialen Vereinen erhielt „Wolfsträne“ den Sonderpreis der Bundeskanzlerin, den sie selbst auswählte und Julia und Katrin überreichte. Inzwischen sind sie wieder im Alltag angekommen und bereiten unter anderem die erste Gruppe vor, in der Fünfjährige betreut werden. Doch bei allen Aktivitäten treten die Leipzigerinnen nicht als Trauerklöße auf, sondern bejahen das bunte Leben, zu dem nun mal der Tod gehört.
Thomas Gillmeister
Kontakt: www.wolfstraene.de