Leisnig. Es tut sich etwas im alten Leisniger Bahnhof, das ist seit Tagen ganz offensichtlich. An allen Ecken und Enden wird gewerkelt. Während im Außenbereich Rasen gemäht und im Erdgeschoss bröckelnde Farbe von der Decke gekratzt wird, reißen fleißige Hände im oberen Stockwerk alte Tapeten von den Wänden.
Und mittendrin Katryn Döhner. Die junge Geigenlehrerin aus Tübingen hat den seit Jahren geschlossenen Leisniger Bahnhof Ende Juli gemeinsam mit ihren drei Freunden Alireza Rismanchian, Christoph Schönbeck und Ofer Löwinger gekauft. Das Quartett hat mit dem Objekt einiges vor. „Wir wollen hier ein buntes Kulturzentrum aufbauen, in dem sich jeder wiederfindet“, fasst Katryn Döhner die Vision zusammen. Das Ganze sei keine Schnaps-Idee, die mal eben im Biergarten entstanden ist. „Die Idee, einen Ort für neue musikalische Projekte zu schaffen, existiert für uns schon seit Jahren“, versichert sie weiter und Alireza Rismanchian ergänzt: „Das Projekt hat sich ergeben, weil wir alle vier diesen Traum hatten. Uns vier verbindet die Musik.“ Die vier Freunde spielen Geige und lernten sich dadurch vor einigen Jahren durch das Projekt „Folklang“ in Tübingen kennen.
Zu Beginn des Jahres machten sich die vier Freunde auf die Suche nach einer geeigneten Immobilie – und dabei fiel das Leisniger Bahnhofsgebäude zunächst durch. „Als ich damals die Fotos vom Leisniger Bahnhof sah, war ich nicht besonders begeistert. Den haben wir uns eigentlich nur angeschaut, weil er auf dem Weg zwischen zwei anderen Immobilien lag“, erinnert Katryn Döhner mit einem deutlich sichtbaren Schmunzeln: „Als wir dann hier aus dem Auto gestiegen sind und das Gebäude sahen, war für uns sofort klar: Das ist es! Wir waren alle vier geflasht.“ Der Bahnhof sei einfach perfekt und erfülle alle Kriterien, die man aufgestellt habe: viel Platz, eine gute Verkehrsanbindung – eingebettet zwischen Leipzig und Dresden – und jede Menge Gestaltungsmöglichkeiten. Während des Corona-Lockdowns hatte das Quartett „jede Menge Zeit, das gemeinsame Projekt voranzutreiben.“ Mit Erfolg. „Schon als wir das Projekt dem Stadtrat vorgestellt haben, haben wir jede Menge positives Feedback bekommen“, erinnert sich Katryn Döhner, deren Tochter Nayana bei den Bauarbeiten ebenfalls mithilft.
Doch das war erst der Anfang. Denn seitdem die vier Käufer Ende Juli in ihr neues Domizil eingezogen sind, bekommen sie täglich mehrmals Besuch von neugierigen Leisnigern, die unzählige Hilfsangebote im Gepäck haben. „Wir haben von Anfang an einen unglaublichen Tsunami an Hilfsbereitschaft erlebt. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass die Leute so unglaublich positiv reagieren. Das ist der absolute Wahnsinn“, schwärmt Katryn Döhner mit einem ansteckenden Lächeln und einem ungläubigen leichten Kopfschütteln: „Der schönste Moment war, als wir am Anfang die Türen der ehemaligen Bahnhofshalle geöffnet haben und die ersten Leute schüchtern und neugierig hier hereingeschaut haben.“
Die Leute bringen selbst gebackenen Kuchen, Blumen, Arbeitsgeräte, Möbel, Fahrräder und viele andere Dinge. Zu Beginn der Woche hat ein Anwohner einen Rasenmäher vorbeigebracht. Wenig später kam ein älteres Ehepaar mit einem Sofa und dem Angebot, in den kommenden Tagen noch ein paar Stühle vorbeizubringen, wenn sie benötigt werden. Einige Freiwillige packen auch selbst mit an, um die traditionsreiche Immobilie für die umfangreiche Sanierung vorzubereiten. So, wie der freie Saxophonist Jens Lübeck. Der Wahl-Leisniger, den es vor 14 Jahren aus Leipzig in die Kleinstadt zog. „Als ich von dem Projekt der vier Musiker hörte, war ich sofort begeistert. Ich hab mir dann einige Musikvideos auf YouTube angeschaut. Die haben mich dann endgültig motiviert, mit ihnen in Kontakt zu treten“, erklärt Jens Lübeck, der an der Musikschule Muldental unterrichtet: „Für musikalische Projekte bin ich immer zu haben. Außerdem hab ich grad Zeit, weil ja Ferien sind.“ Und Arbeit gibt es genug. Neben der Sicherung des Daches und der Trockenlegung des Kellers steht in den kommenden Monaten die Erneuerung der Außentüren und der Fenster auf dem Plan.
Ab September sollen die Elektroarbeiten stattfinden. „Dazu sind wir mit Handwerkern der Region im Gespräch. Wer Lust hat, unser Projekt langfristig zu unterstützen, kann sich gern mit uns in Verbindung setzen. Die ersten Firmen sind bereits dabei“, freut sich Alireza Rismanchian, der als freiberuflicher Architekt sein Wissen in das Projekt einfließen lassen kann: „Unser Bauchgefühl war hier von Anfang an toll. Das bestätigt sich immer mehr. Die Bausubstanz des Gebäudes ist sehr gut. Wir müssen an der Statik nicht viel machen. Das erleichtert uns den Umbau natürlich sehr. Die Räume bleiben weitestgehend wie sie sind. An einigen Stellen, wie zum Beispiel an der Decke in der ehemaligen Bahnhofshalle, wollen wir den Originalzustand wieder herstellen.“ Von dem positiven Feedback, der Hilfsbereitschaft und der großen Gastfreundschaft der Leisniger ist auch Alireza Rismanchian völlig überrascht: „Als Iraner bin ich ja Gastfreundschaft gewohnt, aber was hier passiert, übertrifft all unsere Vorstellungen. Es gab in den letzten Wochen viele Momente, die mich sehr gerührt haben.“ Entstehen sollen auf insgesamt 1600 Quadratmetern unter anderem Unterrichts- und Workshop-Räume, Bühnen, Gästezimmer, ein Restaurant und vieles mehr. Natürlich nicht alles auf einmal. „Das Ganze soll schrittweise entstehen. Bis alles fertig ist, sind wir bestimmt zehn Jahre beschäftigt“, blickt Katryn Döhner voraus. Erstmals offiziell die Türen öffnen wollen die neuen Besitzer den Leisniger Bahnhof am 12. September zum Tag der offenen Tür. An diesem Tag sollen die Besucher erstmals einen Einblick in den zukünftigen Kulturbahnhof bekommen – mit kleinen Konzerten, Gesprächen und Führungen. Einen Tag später, zum Tag des offenen Denkmals, sollen hier ebenfalls die Türen offen stehen. Die ersten offiziellen Veranstaltungen sollen im Sommer 2021 stattfinden – so der Traum von Katryn Döhner und ihren Mitstreitern. Andreas Neustadt
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