Ein Schiff segelt über das Meer, plötzlich verändert sich das Bild. Das Gesicht eines Piraten erscheint, nach ein paar Sekunden wird es einfach weggewischt. Es ist nicht der Wind, sondern die Hand von Olga Lysytska, die die Motive ständig transformiert. Mit feinem Wüstensand lässt die Künstlerin an diesem Abend Landschaften entstehen, malt Porträts und Tiere – alles geht flüssig ineinander über und wird untermalt von der Filmmusik des Komponisten Hans Zimmer.
Das neue Stück der „Sandartisten” illustriert seine Musik und ist derzeit im Blauen Salon im Leipziger Centralkabarett zu sehen. Der Saal ist an diesem Abend gut gefüllt. Die Augen des Publikums wechseln hin und her zwischen der Sandkünstlerin und einer Leinwand, auf die ihre Arbeiten projiziert werden. Wer sich darauf einlässt, spürt nach einer Weile eine tiefe Entspannung. Der Wechsel der Bilder in Kombination mit der Musik hat etwas Meditatives und Beruhigendes.
Die einzige, die sich konzentrieren muss, ist Olga Lysytska. Sie steht in einem blauen Abendkleid an einem Tisch auf der Bühne. Vor ihr liegt eine Glasplatte, auf der sie den Sand anordnet, hin- und herwischt, mit zarten und schwungvollen Bewegungen immer wieder verändert. Handgemalte Skizzen erinnern sie an den Ablauf der Motive. Nachdem der letzte Takt verklungen ist und das Publikum das Konterfei von Hans Zimmer betrachtet, gibt es eine kurze Verbeugung – schon verschwindet die Künstlerin wieder von der Bühne.
Kunstwerke haben keine Beständigkeit
Ist es nicht schade, dass ihre Kunstwerke nichts Beständiges haben, sondern nach jeder Show wieder weg sind? Olga Lysytska schüttelt leicht den Kopf und nennt die Sandmalerei „eine lebendige Kunstform”. Das Wegwischen des vorherigen Motivs sei Teil der Ästhetik. Und: „Man muss sich im Leben immer von Sachen trennen und dann weitergehen”, sagt die 37-Jährige und es klingt beinahe philosophisch. Zum Gespräch erscheint die gebürtige Ukrainerin gemeinsam mit Dimitrij Sacharow, ebenfalls Ukrainer, und Chef der Leipziger „Sandartisten“. Sacharow übersetzt für seine Künstlerin, die kein Deutsch spricht und zu einem Team von insgesamt sechs Artistinnen gehört, die er managt.
Doch was genau reizt Olga Lysytska an dieser so vergänglichen Kunstform? Vielleicht, dass Sandmalerei das genaue Gegenteil eines klassischen Kunstwerks ist? Das Bild wird nicht festgehalten mit Pinsel, Schwamm oder Fineliner – es entsteht allein durch Fingerfertigkeit und durch das Spiel von Licht und Schatten. „Es kommt auf die Verwandlung an”, sagt Lysytska, also auf den fließenden Übergang von einem Bild ins nächste. Außerdem sei das Showelement entscheidend, ergänzt Dimitrij Sacharow. „Es geht darum, Emotionen durch die Bilder ans Publikum zu senden.” Erst daraus entstehe die Verbindung zu den Zuschauern.
Künstlerinnen suchen sich ihren Sand selbst aus
Jede der Künstlerinnen wählt zum Malen ihren eigenen Sand aus. Jede muss ein Gespür dafür entwickeln, wie er fliegt und wie er auf der Glasfläche liegen bleibt. Olga Lysytska nutzt für die Theatervorstellungen Sand aus der Kalahari-Wüste. Doch sie betont, dass dieser am Ende nur Mittel zum Zweck sei. Man könne auch mit anderen Materialien „malen”. Anfänger könnten etwa feuchten Gries nutzen. Das Material fliegt nicht so leicht in die Nase und lässt sich einfacher auf der Glasplatte verteilen.
„Es geht darum, Emotionen durch die Bilder ans Publikum zu senden.”
Wenn die Künstlerin ein neues Stück vorbereitet, beginnt sie damit, Skizzen zu zeichnen. Unter jede Szene wird dann Musik gelegt und geschaut, ob beides zusammenpasst. Sind es zu viele oder zu wenige Motive? Bei der „Hans-Zimmer-Show“ müssen die gemalten Sandbilder zur gespielten Filmmusik passen. Manchmal haut das nicht exakt hin. Dann wird immer wieder korrigiert.
Profi im Sandmalen
Olga Lysytska ist längst Profi im Sandmalen. Vor zwölf Jahren kam die studierte Modedesignerin durch Zufall mit dem Thema in Berührung. Seitdem hat es sie nicht mehr losgelassen. „Die Technik ist mir von Anfang an sehr leicht gefallen”, sagt die Ukrainerin. So schnell wie jetzt malte sie anfangs jedoch noch nicht. „Die Geschwindigkeit ist das Ergebnis von zwölf Jahren Übung.” Einige Tricks und Kniffe schaute sie sich in Kursen bei einer Kunstlehrerin in ihrer Heimatstadt Charkiw ab.
Doch Routine bekam sie durch die tägliche Übung. Lysytska absolvierte Auftritte in der Ukraine, außerdem in Polen und Spanien. 2018 war sie schon mal für einige Events in Deutschland. Im März 2020 sollte sie zu den Sandartisten von Dimitrij Sacharow dazustoßen. Davor wollte sie mit ihrem siebenjährigen Sohn ihren Mann in Georgien besuchen, der zu dieser Zeit im Kaukasus als Fotograf unterwegs war. Dann kam Corona und der komplette Lockdown. Am Ende blieb die Familie anderthalb Jahre in den Bergen. Als die drei zurück in die Ukraine wollten, brach dort der Krieg aus. Es war Dimitrij Sacharow, der alle drei nach Leipzig holte. „Glück im Unglück”, sagt er. „Ihre Eltern sind immer noch in der Ukraine und wollen auch nicht weg.”
Ein neues Leben in Deutschland
So begann für die Sandkünstlerin ein neues Leben in Deutschland – mit Gastspielen in verschiedenen Städten und einem neuen Alltag. Derzeit lernt die 37-Jährige Deutsch in einem Onlinekurs. Nachmittags steht sie meistens am Sandtisch und bereitet sich auf Auftritte vor. Lampenfieber habe sie längst nicht mehr, sagt sie. Obwohl immer wieder Unvorhergesehenes passiere: Einmal sprang ein Mann aus dem Publikum zu ihr auf die Bühne. Er wollte überprüfen, ob sie wirklich live mit Sand malt oder ob nicht doch alles gefakt sei.
„In Deutschland wurde die Sandmalerei ab 2009 salonfähig.”
Sandmalerei in einem Repertoiretheater zu zeigen, das sei hierzulande schon etwas Besonderes, sagt Dimitrij Sacharow. Solche Live-Performances gab es bis vor einigen Jahren praktisch nicht. „Das Genre ist ziemlich jung”, so der Regisseur. Ursprünglich wurde die Technik in Animationsfilmen eingesetzt und schon in den 1960er-Jahren in den USA im Studio verwendet. „In Deutschland wurde die Sandmalerei ab 2009 salonfähig”, sagt Sacharow, der ursprünglich vom Varieté kommt.
Seit 24 Jahren inszeniert der Regisseur Vorstellungen, managt Künstlerinnen und Künstler und arbeitet mit Eventagenturen zusammen. Dann sah er die ukrainische Künstlerin Xenia Simonova, die mit Sandmalerei die Fernsehshow „Das Supertalent” in der Ukraine gewann. Sacharow war Feuer und Flamme, er suchte sich talentierte Malerinnen aus Weißrussland und der Ukraine und brachte die Kunstform nach Deutschland.
Finale des deutschen „Supertalent”
Mit Sandmalerin Natalya Netselya schaffte er es 2010 ins Finale des deutschen „Supertalent”. Die Künstlerin malte auch auf der Tour der Kelly-Family zu deren Songs vor 13 000 Zuschauern live Sandbilder. 2015 inszenierte Sacharow die Geschichte von Hamburg als Sandschauspiel. „Das war die Geburtsstunde des Sandtheaters”, sagt er rückblickend. Während es zuvor meist kurze Geschichten waren, die in Sandmotiven erzählt wurden, sollte das Format jetzt 75 Minuten lang durchgehend unterhalten.
Der Regisseur hatte anfangs seine Zweifel, wurde aber eines Besseren belehrt. „Wir sind weltweit die einzigen, die so verrückt waren, Sandtheater zu versuchen”, sagt er. Bereut hat er es bisher nicht.
Gemeinsam mit seinen Künstlerinnen sorgt er dafür, dass das Genre an Popularität gewinnt. Kürzlich hatten Olga Lysytska und er einen Auftritt bei Carmen Nebel. Die Künstlerin malte zu Live-Musik von David Garrett Bilder aus Sand. „Das haben fünf Millionen Zuschauer gesehen”, freut sich Sacharow. Zwischenzeitlich schickte er seine Artistinnen auf Kreuzfahrtschiffe, wo sie als Einzelkünstlerinnen eine große Show gestalteten. Der große Vorteil des Genres: „Man kann alle Geschichten mit Sandmalerei erzählen.”
Teils werden die Storys von Erzählern ergänzt. „Der kleine Prinz” etwa, der aktuell am Boulevardtheater in Dresden zu sehen ist, wird von einem Sprecher begleitet. Mittlerweile ist das Haus in der Elbestadt eine weitere feste Spielstätte für Sacharows Truppe. Die 480 Plätze sind fast immer komplett ausverkauft.
Suche nach neuen Spielorten
Derzeit sucht der Regisseur nach einem neuen Spielort in Berlin, wo er vor ein paar Jahren in einer Nebenbühne des Admiralspalasts schon einmal Sandtheater zeigte. Der Besitzer erhöhte die Miete drastisch, Sacharow musste gehen. Derzeit ist er mit zwei Häusern in der Hauptstadt im Gespräch. Ab Juni kann man die Sandkünstlerinnen auch in Sellin auf Rügen erleben. Weitere feste Spielstätten würde Sacharow gern in Hamburg, im Raum Frankfurt und am Bodensee aufbauen. In Leipzig wird derweil schon bald das neue Stück für den Herbst vorbereitet: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel kann das Publikum dann in Sand gemalt erleben.
Weitere Infos unter: www.sandartisten.de
Gina Apitz