Dieses Glück weiß Karin Lovelius unbedingt zu schätzen. Mit einem versonnenen Lächeln meint die schwedische Mezzosopranistin: „Ich hatte das Glück, immer zur richtigen Zeit die richtigen Menschen zu treffen. Mentoren, die mich beeinflusst und auf meinem Weg begleitet haben.“ Ein Weg, der sie schon vor einem Jahrzehnt an das Leipziger Opernhaus gebracht hat – und aus dem eigentlich geplanten Intermezzo wurde ein langer, lehrreicher und fruchtbarer Aufenthalt. Einschließlich der Entdeckung einer neuen Heimat.
Ein wenig zwickt er, der Muskelkater. Das erzählt Karin Lovelius mit einem Lächeln bei Milchkaffee und dem Blick auf den grünen Opernpark. „Ich habe Dinge veranstaltet, die ich schon seit Jahren nicht mehr gemacht habe“, verrät sie – ja, dieses Spielen mit der legendären Pippi Langstrumpf am vergangenen Sonntag nötigte schon einiges ab. Weil die Aufführung im Leipziger Westbad dann doch eine unter besonderen Vorzeichen war. Die neue Normalität in Zeiten von Covid-19 eben: „Eigentlich ist dies ja eine Aufführung, die von der Nähe zu den Kindern lebt. Aber wir haben es trotz des Abstands nach einer Weile geschafft, sie mit unserem Blödsinn mitzunehmen.“
Blödsinn? Na ja, besser gesagt Hyperaktivität. Mit Auf-den-Stuhl-Springen, Tanzen, Rumtollen, irgendwie doch Blödsinn machen im wunderbaren kindischen Stil. Und mittendrin stecken dann jene Zutaten, die Karin Lovelius „schwedisches Kulturgut“ nennt, eines, das man hierzulande gar nicht so genau kennt. Lieder über Lieder, geschrieben von hochkarätigen Musikern aus Schweden (in der Liste findet sich auch ein Benny Andersson, ja, genau, der von ABBA). Die Idee war klar – genau dieses Kulturgut („In Schweden kennt jedes Kind diese Lieder!“) nach Leipzig zu bringen: Schon 2016 brachte sie ein entsprechendes Astrid-Lindgren-Programm auf die Opernbühne, mit selbst geschriebenen Dialogen, verfasst in einem Ferienhaus. Jetzt, im Juli 2020, hat „Pippi Langstrumpf“ noch einen zusätzlichen, höchst bekömmlichen Schuss kindlichen Blödsinn bekommen. „Ich habe gemerkt, dass wir uns sogar noch etwas mehr trauen können“, meint Karin Lovelius mit einem Augenzwinkern und Blick auf die Vorstellung am Sonntag, 12. Juli. Muskelkater hin oder her. Der Erfolg in Sachen Astrid-Lindgren-Songs gibt recht: „Inzwischen singen Kinder die Lieder schon mit. Und selbst bei den Erwachsenen wird die Fantasie angeknipst.“
Spaß habe es gemacht, sagt sie. Endlich mal wieder auf der Bühne stehen! Singen! Und spielen! „Schon als kleines Kind habe ich kleine Vorführungen gemacht“, erzählt sie und auch davon, wie sie mit dem Thema „Lampenfieber“ umgegangen ist: „Ach, das hat kaum eine Rolle gespielt: Sobald ich wusste, dass die Leute im Publikum bezahlt haben, war mir klar, dass ich auch abliefern muss.“ Wirklich gerade war der Weg von Karin Lovelius auf die Bühne im Allgemeinen und die Opernbühne im Speziellen aber wahrlich nicht. Als Kind aus einer Arbeiterfamilie stand die (wohlbekannte) Maßgabe – erst mal einen ordentlichen Beruf lernen. Und so darf sie sich auch mit Fug und Recht Diplomkauffrau nennen: „Aber schon an meinem allerersten Arbeitstag im Computer Consulting war mir klar – das kann ich nicht.“
Dann beginnt sie, die Geschichte der wichtigen, richtigen Begegnungen. Mit einer Theaterlehrerin zum Beispiel, die „in mir etwas gesehen hatte. Und die mir dann auch stets ganz schwere Rollenaufgaben gegeben hat. Deshalb habe ich mit 25 Jahren angefangen, diese Herausforderungen zu erforschen und anzunehmen.“ Oder jene Freundin, die ihr den Schritt nach Helsinki empfohlen hatte, an die Sibelius Academy: „Nachdem mir klar war, dass ich nie und nimmer als Diplomkauffrau arbeiten kann, habe ich beim Opernchor in Stockholm vorgesungen und bin auch sofort angenommen worden. Aber nach ein paar Jahren war mir dies einfach zu wenig Schauspiel – eigentlich wollte ich immer Musiktheater machen.“ Dann kam die Begegnung mit Leipzigs Opernintendanten Prof. Ulf Schirmer – wieder ein Treffen mit Folgen bis zum heutigen Tag. Ohne die Gleichzeitigkeit von Unterstützung und Herausforderung wäre das Engagement in Leipzig wohl doch eher ein Intermezzo geblieben …
Eine ganz wichtige Begegnung muss aber erst noch erwähnt werden – auch wenn es genau genommen kein echtes Treffen war. Aber es waren Momente der Weichenstellung, damals in New York City, erzählt Karin Lovelius im Rückblick auf das eigene, 16-jährige Ich: „Ich habe damals Jane Henschel zugehört, wie sie gewissermaßen von meinem Leben gesungen hat. Und ich fühlte mich auf der Stelle abgeholt. Das war schon ein bisschen verrückt: Eigentlich war ich damals nicht besonders selbstsicher, aber in diesem Moment war mir klar – diese Partie möchte ich auch unbedingt einmal singen.“ Eine wunderbare Geschichte, die letztlich aber eine noch viel spannendere Wendung nehmen sollte: Als sich 25 Jahre später dieser Lebenstraum erfüllen sollte, wagte Karin Lovelius den Kontakt. Und siehe da, „Jane Henschel hat mir sogar geholfen, diese Partie zu meistern – und das war eine richtige Herausforderung, an der ich anderthalb Jahre gearbeitet habe“.
Nun haben Lebensträume und große Visionen auch eine gewisse Schattenseite, um die die Mezzosopranistin auch weiß. Und von der sie auch offen spricht. Was kann kommen nach der Erfüllung dieses lebenslangen Traumes? Nach dem Singen der sehnsüchtig erhofften Partie auf der großen Bühne? „Wenn man das ganz große Ziel geschafft hat, steht man schon vor der Frage – was kommt jetzt“, überlegt sie. Aber als Sängerin gibt’s da glücklicherweise auch ein paar Hintertürchen: „Ich würde diese Partie auch gern woanders singen.“ Andererseits hat sich Karin Lovelius die Entdeckerlust immer bewahrt. Diesen Drang zur Vielseitigkeit, der vielleicht auch ein wenig in der schwedischen Herkunft begründet ist. „In Schweden muss man sich als Sängerin in viele Dinge reinarbeiten, vieles machen. Ja, das hat mir schon geholfen“, erzählt sie und ergänzt: „Andererseits war es schon eine große Umstellung: Hier in Leipzig hatte ich auf einmal ein Pensum von sechs, sieben Partien in einer Saison – wesentlich mehr als an einem schwedischen Opernhaus.“
Die Aufgeschlossenheit ist geblieben. Die Lust am kindlichen Blödsinn beispielsweise, den sie in „Pippi Langstrumpf“ auf die Bühne bringt. Die Freude daran, junge Menschen ebenfalls zu infizieren mit dieser Leidenschaft für Musik – da ist es eine Selbstverständlichkeit für die Opernsängerin, mit „Hänsel & Gretel“ an den Schulen der Messestadt zu gastieren. Und auch da wieder wunderbare Geschichten und Erlebnisse mitzubringen: „Da gab’s mal eine Vorstellung, nach der ein siebenjähriger Junge zu mir gekommen ist, gleich mehrmals und sich sehr bedankt hat.“ Mit einem zufriedenen Lächeln ergänzt sie: „Ich finde es sehr gut, dass man hier in Leipzig immer daran denkt, auch die kommenden Generationen für Musik zu begeistern.“ Wieder so ein Punkt, der erklärt, warum die Messestadt nun schon seit einem Jahrzehnt eine künstlerische Heimat geworden ist.
Wobei ja irgendwann einmal der Name Richard Wagner ins Spiel kommen muss – klarer Fall bei einem Opernhaus, das sich die Pflege dieses musikalischen Erbes so angenommen hat. Für Karin Lovelius eine echte Herausforderung, eigentlich war Wagner nicht wirklich ihr Ding. Mehr noch, „bei einem Wettbewerb habe ich einmal Wagner gesungen und dies vollkommen falsch. Am Ende habe ich den zweiten Preis bekommen mit dem Tipp, nie wieder Wagner zu singen“. Was sie nicht daran hinderte, bei einer entsprechenden Anfrage in der schwedischen Heimat umgehend zuzusagen. Abenteuerlust? Sicher! Immer her mit der Herausforderung. „Im Umgang mit Wagner habe ich gelernt, wie wichtig der Text ist“, erklärt sie jene Erfahrungen, die sie nicht zuletzt in Leipzig, mit dem Mentor Prof. Ulf Schirmer an der Seite gesammelt hatte: „Es braucht eine gewisse Genauigkeit und Geduld für diese Opern. Und ich habe die letzte Zeit der Pandemie tatsächlich auch genutzt, um mir andere Wagner-Aufführungen im Internet anzuschauen – einfach, um zu lernen, wie andere Sängerinnen mit den Partien umgehen. Wie sie mit Worten arbeiten – dies ist für mich als Fremdsprachlerin gerade bei Wagner schon eine große Herausforderung.“
Dann sind sie da wieder, diese wichtigen Begegnungen. Die den Weg in Gefilde lenken können, an die man gar nicht gedacht hatte. Mit einem Lächeln berichtet Karin Lovelius davon, wie sie vor einiger Zeit zu Professorin Regina Werner-Dietrich gegangen ist, der Gesangslehrerin der Opernkollegin und Freundin Olena Tokar. „Endlich kommst du zu mir – genau dies hat sie bei unserer ersten Begegnung zu mir gesagt“, erinnert sich die Mezzosopranistin und weiß noch genau um einen spannenden Satz: „Sie sagt: In deiner Stimme steckt noch so viel mehr drin.“ Der Startschuss für eine (kreative) Entdeckungsreise, die zu erstaunlichen Erkenntnissen führte: „Inzwischen habe ich auch das Ziel, mich noch mehr in die Partien in der Stimmlage Alt einzuarbeiten. Auch wenn dies für mich erst einmal vollkommen ungewohnt war: Diese tiefe Stimme – ich hatte das Gefühl, dass diese überhaupt nicht zu mir gehört.“
Gut, dass dieses Gefühl mittlerweile verflogen ist. Denn es ist die Lust an der Authentizität, die die Sängerin nach wie vor antreibt. Die Leidenschaft, in den Rollen aufzugehen, sich in die Charaktere geradezu hineinzustürzen. Mit viel Empathie, mit Menschlichkeit Ein wenig, sagt sie, ist das wie „physisches Theater“ (jene Sparte, die sich explizit auf die Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Körpers fokussiert). „Dies ist das Anspruchsvolle an diesem Beruf – man muss sich immer mit voller Kraft in eine Rolle stürzen. Etwa in die Rolle der Klytämnestra in ,Elektra’ von Strauss. Ich gebe es zu – da hatte ich sogar ein wenig Angst, meine Stimme zu schädigen. Bis man mir gesagt hat: Dort ist die Wand und du bist noch ein Stück weg, wenn du bremst. Darüber habe ich lange nachgedacht und es hat mir geholfen.“ Und mit einem Lächeln erklärt sie etwas unfassbar Grundsätzliches in der Welt der Oper: „Hier geht es nicht allein um die schönen Kleider und die tollen Bühnenbilder. Letztlich muss man das Publikum wirklich berühren.“
Diesen Spirit hat Karin Lovelius längst mitgenommen auch in andere Welten. In Schweden hat sie bereits als Moderatorin gearbeitet, auch das Produzieren von Stücken liegt ihr – siehe „Pippi Langstrumpf“ und die Astrid-Lindgren-Aufführung. Die Zeiten des Corona-Lockdowns haben die Chance gegeben, darüber wieder ein wenig mehr und intensiver nachzudenken. Mal ganz abgesehen davon, dass Raum geblieben ist für wirklich bemerkenswerte Projekte. Mit Musikern aus Schweden, aus Indien – „das war schon eine schwierige Sache, aber ich habe auch immer gesagt: Wir müssen es wenigstens versuchen. Und das Risiko hatte sich unbedingt gelohnt.“
Mit einem Lächeln lehnt sie sich zurück. Der Muskelkater ist vergessen, das Heimatgefühl umso greifbarer. „Ich habe schnell gespürt, dass ich eigentlich nicht nach Schweden zurück möchte“, erzählt sie: „Inzwischen habe ich mir in Berlin ein richtiges Nest gebaut. Einen Ruhepol, den es braucht in diesem fordernden Beruf. Warum Berlin? Vielleicht, weil es dann doch diese klare Trennung zwischen Beruflichem und Privatem braucht.“ Jens Wagner