Am 9. November jährt sich der Tag des Mauerfalls bereits zum 35. Mal. Das historische Datum besiegelte das Ende der DDR. Was folgte, war die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland. Doch sind die Bundesrepublik (BRD) und die ehemalige DDR heute wirklich zusammengewachsen? Wo liegen die Unterschiede zwischen Ost und West? Und was zeichnet die Ostdeutschen aus? Damit beschäftigt sich ein Buch, das drei Leipziger Wissenschaftler kürzlich veröffentlicht haben. Der Sammelband von Astrid Lorenz, Rebecca Pates und Lars Vogel geht der Frage nach den ostdeutschen Identitäten auf den Grund – 23 Autorinnen und Autoren sind mit ihrem jeweiligen Forschungsschwerpunkt vertreten.
Besuch im Büro von Dr. Lars Vogel in der Beethovenstraße in der Nähe des Bundesverwaltungsgerichts. Der Politikwissenschaftler, der an der Uni Leipzig lehrt und forscht, hat sein Büro im Erdgeschoss des Gebäudes. Ein Gerüst steht direkt vor dem Fenster und nimmt einen Teil des Tageslichts. An einem der zwei Schreibtische, die in dem kleinen Raum stehen, sitzt Vogel und lächelt freundlich, so als störe ihn die Enge nicht im geringsten. Die Idee für das Projekt wurde vor zwei Jahren geboren, zu einer Zeit, in der in der Wissenschaft „über Ostdeutschland vermehrt gesprochen wurde”, sagt er.
Keine Unterschiede mehr zwischen Ost und West?
„In der Wissenschaft herrschte der Tenor vor, Ostdeutschland ist etwas, was wir nicht mehr verwenden sollten”, erklärt der 43-Jährige. Einige Wissenschaftler seien der Meinung, es gebe keine Unterschiede mehr zwischen den beiden Teilen des Landes. Ihre Schlussfolgerung: „Ostdeutschland als analytische Kategorie sollte man aufgeben.”
Vogel und seine Kolleginnen und Kollegen widersprechen dieser Annahme in ihrem Buch. Ostdeutschland sei sehr wohl noch eine relevante Kategorie, die einzeln betrachtet werden müsse. Ja, in manchen Bereichen haben Angleichungen stattgefunden: Unternehmensgründungen haben zugenommen im Osten, die Einkommen sind insgesamt gestiegen und „ländliche Kreise haben in Ost und West ähnliche Probleme”, zählt Vogel auf.
Doch es gebe noch immer große Unterschiede. Im Osten etwa fehlen Großunternehmen im ländlichen Raum. Doch wie sieht sie nun konkret aus, die ostdeutsche Identität? So pauschal könne man das nicht sagen, sagt Lars Vogel. Der Forscher unterteilt stattdessen in drei „Typen”.
- Die verleugnende Identität: Diese Menschen fühlen sich nicht als Ostdeutsche, der Begriff spielt für sie überhaupt keine Rolle mehr.
- Die abgrenzende Identität: Wer sich hier einordnet, sieht den Unterschied zwischen Ost und West als etwas an, was überwunden werden muss. Damit einher geht eine Anpassung an den Westen und als Folge die Auflösung in einer gesamtdeutschen Identität. Teil dieser Gruppe seien aber auch Leute, die stolz sind, ostdeutsch zu sein und damit „der bessere Teil Deutschlands”, sagt Lars Vogel. „Gerade auf der rechten Seite des Diskurses wird das aufgegriffen. In beiden Fällen ist das eine abgrenzende Identität.”
- Die integrative Identität: Hier sortieren sich Menschen ein, die glauben, dass Ostdeutsche etwas einbringen können in die Gesellschaft. Sie fühlen sich mehreren Kategorien zugehörig und sehen sich etwa als Europäer, als Ostdeutsche, vielleicht auch als Sachse oder Leipziger. Vor allem jüngere Menschen, die die DDR nicht mehr selbst erlebt haben, dafür aber den Prozess der Wiedervereinigung, meinen, dass sie von den Erfahrungen der Wendejahre profitieren.
Migranten ohne eigenes Land
Das Ganze sei vergleichbar mit Menschen mit Migrationshintergrund, sagt Lars Vogel. „Nur, dass es Migranten sind, deren Land weggegangen ist.” Wobei dieser Vergleich an einigen Stelle hinke, gibt er zu. Ostdeutsche haben – im Gegensatz zu Migranten, die aus anderen Ländern stammen – die deutsche Staatsangehörigkeit, ebenso die Rechte und Pflichten eines Staatsbürgers. Gleichwohl erfahren Ostdeutsche immer wieder Diskriminierung und Abwertung, „auch wenn diese bei Personen, die aus anderen Ländern nach Deutschland kommen, erheblich ausgeprägter sind”.
Zu einer ostdeutschen Identität gehören laut Vogel drei Dinge: die DDR-Erfahrung, die Erlebnisse der Transformation und die von Abwertung. Der Wissenschaftler nennt ein Beispiel: Für viele jüngere Menschen, die nach der Wende geboren wurden, spielt der Begriff „ostdeutsch” oftmals keine Rolle, bis sie mal im Westen des Landes waren und dort als Ostdeutsche bezeichnet wurden.
„Man wählt Personen, die ausgrenzen, um die eigene Ausgrenzung zu kompensieren.”
Einige Menschen der „mittleren Generation”, die die DDR noch bewusst erlebt haben, haben vor allem in den 1990ern vermieden, über ihre Herkunft zu sprechen, um nicht benachteiligt zu werden. Heute sei eher das Gegenteil der Fall. „Junge Leute stellen sich als Angehörige einer benachteiligten Gruppe von Ostdeutschen dar – und fordern Vorteile für diese ein”, so Vogel. Diese Einstellung erkläre auch teils den großen Zuspruch zur AfD in Ostdeutschland, gerade unter jungen Menschen – und zwar als Reaktion auf Abwertungs- und Ausgrenzungserfahrungen. Und das auch, wenn man nicht selbst betroffen ist, sondern nur die eigene Gruppe. „Das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, ist in Ostdeutschland weiter verbreitet als in Westdeutschland.“ Das führe dazu, dass rechtspopulistische Parteien öfter gewählt werden. „Man wählt Personen, die ausgrenzen, um die eigene Ausgrenzung zu kompensieren”, sagt Vogel.
Einige Menschen führten eine Art Feldzug gegen die etablierte Politik, die die Ostdeutschen vernachlässigt habe. Darüber hinaus gebe es Menschen, die ideologisch bedingt rechtsextreme Parteien wählen. Dieses Phänomen finde sich aber auch in Westdeutschland.
In gewisser Weise sei dieses Gefühl sogar gerechtfertigt, sagt Vogel. Ostdeutsche seien in Führungspositionen nach wie vor unterrepräsentiert, die Vermögen der Ostdeutschen seien im Schnitt deutlich geringer als im Westen des Landes. „Das Bundesland mit dem höchsten Steueraufkommen im Osten liegt immer noch hinter dem einkommensschwächsten Bundesland in Westdeutschland.” Gemeint sind die Steuereinnahmen der Länder pro Einwohner. Hier liegt Brandenburg im Osten an der Spitze, aber immer noch hinter dem Saarland, das im Ranking als schlechtestes Land im Westen abschneidet. Im Osten, sagt Vogel, gebe es wirtschaftlich betrachtet nur ein paar wenige Leuchttürme wie Leipzig, Jena oder Rostock. Der ländliche Raum aber schwächele.
Systemwechsel wirkt sich bis heute aus
Der Wechsel des Systems habe bis heute Auswirkungen auf den Osten des Landes. „Westdeutschland ist in den 1990er-Jahren nicht durch eine ähnlich schnelle Transformation des sozialen und politischen Bereichs gegangen wie Ostdeutschland”, fasst Vogel zusammen. Der Beitritt zur BRD sei eine „kollektive Deklassierung” gewesen.
Unterschiede zeigen sich auch im zivilgesellschaftlichen Engagement in Vereinen und Verbänden, das im Osten weniger weit verbreitet sei, zählt Vogel auf. Im Osten seien Vereine öfter staatlich finanziert aus den Haushalten der Städte und Kommunen. Im Westen der Republik finanzieren sich diese eher über Sponsoren und Spenden. Hinzu kommt: Studien zeigten, dass sich höher gebildete Menschen mit akademischen Abschlüssen häufiger in Vereinen engagieren. Auch davon gibt es im Osten statistisch betrachtet weniger. Und wie sieht die Zukunft aus? Lars Vogel sagt, es wird keine Angleichung von Ost und West in allen Bereichen geben. „Man muss akzeptieren, dass der Osten ein Teil ist, der anders ist.” Dafür aber gehöre er zu einer vielfältigen gesamtdeutschen Identität.
Auch der Wissenschaftler selbst ist ostdeutscher Herkunft. Geboren wurde Vogel 1981 im sächsischen Reichenbach. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie in Thüringen und Budapest, promovierte und lebt heute mit seiner Frau und drei Kindern in Jena.
Während der Vorlesungszeit ist er mehrere Tage pro Woche in Leipzig, sitzt dann aber vorwiegend am Schreibtisch oder im Seminarraum. Als Wissenschaftler, sagt Vogel, sei er durch Lehre und Forschung per se in Zeitnot. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, schwingt er sich aufs Rennrad. Manchmal strampelt er auch die 100 Kilometer von Jena bis in die Messestadt.
Gemeinsam mit seiner Frau werkelt der Forscher gern im eigenen Garten, zieht dort Gemüse und stellt Sauerkraut und Sauerteig selbst her. „Damit versorge ich am Wochenende unsere Familie mit Brot und Brötchen.” Außerdem ist der Doktor auch ein kreativer Geist. „Meinen Kindern erzähle ich selbst erfundene Geschichten über tollpatschige Piraten und empowerte Prinzessinnen, die je nach Alter angepasst werden und manchmal versteckt sozialwissenschaftliche Themen behandeln”, verrät er.
Der Sammelband über ostdeutsche Identitäten sei zwar keine ganz leichte Abendlektüre. „Es ist trotzdem ein Buch, das alle – auch Nicht-Akademiker – lesen sollten, findet Vogel. Und: Es sei überwiegend verständlich geschrieben. Gina Apitz