Leipzig. Wer Anja Böttger zu Hause besucht, wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit bei weit geöffnetem Fenster antreffen. Herbst hin oder her. „Ich bin eine Frischluftfanatikerin”, sagt die Künstlerin zur Begrüßung. Anders als manch anderer Kunstschaffender braucht die 44-Jährige kein großes Atelier, um zu arbeiten. Ihr genügt ein Schreibtisch in ihrem Wohnzimmer, um kreativ zu sein.

Genau dort entwickelte sie zuletzt die Serie „Farb- und Formtagebuch”, die sie 2018 begann und im vergangenen Jahr abschloss. Entstanden sind 100 Ölkreide-Arbeiten, allesamt abstrakt, in kräftigen Farben und kantigen Formen gehalten. Die Bilder spiegeln ihre persönlichen Gefühle wider, sagt sie. „Emotionen, die man verbal vielleicht nicht so artikulieren kann.” Es ist die Corona-Hochzeit mit ihren Lockdowns und viel Verunsicherung, die hier zum Ausdruck kommt. Hinzu kommt der Tod ihres Vaters, den Anja Böttger in diesen Werken verarbeitet hat. Sie sagt: „Malen ist ein Kraftakt, der innere Verspannungen löst.” Die Farbe Rot etwa, die oft auftaucht, sei mit Aggression verbunden. „Ein klares Zeichen, dass ich da nicht entspannt war.” Ein Teil dieser Arbeiten ist aktuell in der Stadtteilbibliothek in Plagwitz zu sehen.

Derzeit arbeitet die Künstlerin an einer neuen Serie, diesmal in einer ganz anderen Technik. Womit sie sich ausdrückt, variiere je nach Lebensabschnitt, sagt Anja Böttger. In ihrer Jugend arbeitete sie noch viel mit Keramik. Aufgewachsen ist sie im Leipziger Norden, besuchte schon als Kind regelmäßig Keramikkurse in der Werkstatt der Bildhauerin Irene Marquart. „Ich hab meine ganzen Ferien dort verbracht”, erinnert sie sich. Künstlerisch waren die Eltern weniger versiert. Doch sie förderten das Interesse der Tochter.

Nach dem Abitur absolviert Anja Böttger eine Ausbildung zur gestaltungstechnischen Assistentin in Halle. „Da hab ich festgestellt, dass ich nicht den ganzen Tag vorm Computer sitzen will.” Stattdessen will sie Kunst studieren – und wird in Dresden auf Anhieb genommen. Im Jahr 2000 beginnt sie ihr Studium in „Freier Malerei“ an der Hochschule für Bildende Künste. Die Studentin nutzt die Werkstätten intensiv, probiert viele Techniken aus – Fotografie, Druck, Buchbinden, Keramik, Guss. „Das war ein Luxus, alles nutzen zu können.” Sie schließt mit dem Diplom ab und wird im Anschluss zwei Jahre lang Meisterschülerin bei Professor Lutz Dammbeck. „Eine intensive Zeit”, sagt Anja Böttger rückblickend, in der sie viele Audioprojekte umsetzt.

Für ihre Diplomarbeit porträtiert sie Menschen in einem Altenheim . Dafür ist sie ein halbes Jahr lang in einem Dresdner Pflegeheim unterwegs – mit Bleistift und Zeichenblock im Gepäck. In Tonaufnahmen lässt sie die alten Menschen selbst zu Wort kommen. Der Kontakt zu den Bewohnerinnen und Bewohnern ist auf einer sehr persönlichen Ebene. Obwohl der Tod allgegenwärtig ist, sagt die gebürtige Leipzigerin: „Es gab dort eine sehr schöne Atmosphäre.”

Rückkehr nach Leipzig vor zehn Jahren

Nach dem Studium versucht sie als Künstlerin zunächst in Berlin Fuß zu fassen. Doch die riesige Stadt gefällt ihr nicht. „In Neukölln ist jeder Dritte Künstler.” Also kehrt die Leipzigerin 2010 in ihre Heimatstadt zurück. Es ist anfangs nicht leicht, nur von der Kunst zu leben. Sie hält sich mit Nebenjobs über Wasser und gibt zu: „Der Übergang war sehr schwierig.” Eine Zeit lang arbeitet sie als Komparsin an der Semperoper in Dresden – und entdeckt da ihre Liebe zum Schauspiel. Für die Schaubühne Lindenfels in Leipzig gestaltet sie viele Jahre lang die Plakate, sitzt auch an der Kinokasse. Schließlich schafft sie es, allein von ihrer Kunst zu leben – bis die Corona-Pandemie zeitweise Ausstellungen verhindert. Mit einem Teilzeit-Job übersteht sie diese Zeit und merkt: „Ich wollte wieder raus aus meinen eigenen vier Wänden.” So entsteht eben jenes Projekt, an dem Anja Böttger auch aktuell noch arbeitet: Eine Sammlung an heimischen Wildkräutern, akkurat gezeichnet mit Bleistift und Tusche und mit den wichtigsten Eigenschaften versehen. „Ich hatte Sehnsucht danach, detailgetreuer zu arbeiten”, erklärt sie ihre Motivation. Im Frühling und Sommer dieses Jahres zieht die Künstlerin los, entdeckt Leipzigs Grünflächen und Gärten. Mit dabei hat sie einen Klappstuhl und einen großen Sonnenhut. Die Wildpflanzen porträtiert sie stets vor Ort. „Ich musste auch ein-, zweimal abbrechen, weil mir so heiß wurde auf der Wiese.”

Anja Böttger holt eine Mappe heraus und zeigt einige Beispiele ihrer Arbeiten. Beifuß etwa sei „total gut für die Wärme im Körper”. Auf Papier festgehalten sind unter anderem Hagebutte, Sanddorn – „hoher Vitamin-C-Gehalt“ – , Wilde Möhre und Kapuzinerkresse. In ihrer Detailtreue erinnern die Arbeiten ein wenig an Abbildungen aus Biologie-Lehrbüchern. Und in der Tat will die Künstlerin auch Wissen vermitteln. Um noch fachkundiger zu sein, absolviert sie derzeit eine zweijährige Weiterbildung zur Natur- und Wildpflanzenpädagogin. „Es wachsen so viele Heilmittel um uns herum”, hat sie inzwischen gelernt. Passend zum Bildungscharakter der Werke hat sie bei der Leipziger Volkshochschule angefragt, ob sie ihre Arbeiten dort zeigen kann. Geplant ist zudem eine Ausstellung im Haus der Demokratie in Connewitz im März nächsten Jahres.

Yoga- und Dehnübungen am Morgen

Steht eine neue Schau an, hat Anja Böttger mit der Vorbereitung im Vorfeld meistens viel zu tun. Bevor es mit Orga-Kram losgeht, macht sie morgens aber in der Regel erst einmal Dehnübungen und zehn Minuten Yoga. „So starte ich meistens in den Tag.” Wenn sie nicht gerade zeichnet, nimmt sie auch gern mal Hacke oder Spaten in die Hand. Sie engagiert sich im Nachbarschaftsgarten Leutzsch. In diesem Sommer sei auf ihrem kleinen Beet zwar nicht so viel gewachsen. Dafür plauderte sie viel mit den anderen Hobby-Gärtnern oder kam dorthin, um ein Buch zu lesen.

Musik spielt wichtige Rolle

Neben der Malerei spielt Musik eine wichtige Rolle in Anja Böttgers Leben. Einmal pro Woche geht sie zum Jazztanzkurs. Einige Jahre lang hat sie Swing getanzt und würde sich heute gern einem Chor anschließen. Denn: „Es wäre schön, mit anderen zu singen.” Musik ist auch das Thema ihrer nächsten beiden Kunstprojekte: So ist sie gerade dabei, eine Swing-Band zeichnerisch zu porträtieren. „Die Musik soll farblich einfließen”, sagt die Malerin und „die Emotionen einfangen”. Das Ganze stehe noch am Anfang, sei aber für den Winter geplant. Außerdem will sie bei der Leipziger Oper anklopfen und darum bitten, dass sie sich bei Proben in den Zuschauerraum setzen kann, um zu zeichnen. Das Bühnenbild, die Sänger und das Orchester will sie aufs Papier bringen – und dabei ein bisschen Theaterluft schnuppern. Gina Apitz

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