Thomas Nabert, Chef des Leipziger Vereins Pro Leipzig, mit dem neuen Band über Ansichtskarten aus Leutzsch. Foto: André Kempner
Thomas Nabert, Chef des Leipziger Vereins Pro Leipzig, mit dem neuen Band über Ansichtskarten aus Leutzsch. Foto: André Kempner

Sie stehen anein­andergereiht im Becken, ein paar Kinder lassen die Beine ins Wasser baumeln, andere Badegäste posieren am Rand mit einem Handtuch über der Schulter. Zu sehen ist diese Szene auf einer Postkarte, die etwa 1920 entstand. Sie zeigt ein Foto des Prießnitzbads, eines Freibads im Leipziger Ortsteil Leutzsch. Das Schwimmbecken war auf 22 Grad beheizt – diese Besonderheit wurde auf der Karte ­extra vermerkt.

Anfangs badeten Damen und Herren getrennt. Erst in den 1920er-Jahren wurde die Teilung aufgehoben. Von dem Freibad ist heute nichts mehr zu sehen. In den 1980er-Jahren wurde es geschlossen, später abgerissen und eingeebnet. So bleibt es eine Notiz in der Stadtgeschichte, die im neuen Ansichtskartenband über Leutzsch auftaucht. Zusammengestellt haben das Ganze Wilfried Grylla und Thomas Nabert, beide aktiv im Verein Pro Leipzig, der bereits 15 solcher Ansichtskartenbände herausgebracht hat.

250 Ansichtskarten im neuen Buch

„Wir wollen das möglichst flächendeckend für ganz Leipzig machen”, sagt Nabert, der den Verein leitet. Den Westen und Süden, auch die Orte Böhlen und Rötha, wurden bereits abgebildet. Nun gibt es ein Buch, das 250 alte Ansichtskarten aus Leutzsch versammelt. „Sie ­dokumentieren die Entwicklung vom Dorf zum Ortsteil”, erklärt der 62-Jährige.

Der Verein Pro Leipzig hat einen Band mit Postkarten aus Leutzschveröffentlicht. Darauf ist auch die „Große Eiche“ als Sehenswür- digkeit dargestellt. Repro: Pro Leipzig
Der Verein Pro Leipzig hat einen Band mit Postkarten aus Leutzsch veröffentlicht. Darauf ist auch die „Große Eiche“ als Sehenswürdigkeit dargestellt. Repro: Pro Leipzig

In Leutzsch waren – anders als etwa in Plagwitz – Wohnsiedlungen und Industriegebiet klar getrennt. Und: Das Viertel war schon um 1900 ein Ausflugsziel für die Leipziger, die sich hier in den Freiluftlokalen tummelten. Die älteste Karte aus dem Jahr 1894 zeigt den Biergarten Waldhof mit Gästen. „Eine so alte Karte ist schon etwas Besonderes”, freut sich Nabert über den Fund.

Viele Städter nutzten das grüne Leutzsch wegen seiner idealen Lage für einen sonntäglichen Ausflug. In den Biergärten hatten teils 2000 bis 3000 Menschen Platz. „Da wurde Kaffee, ­Limonade und Bier bestellt”, erzählt Thomas Nabert. „Das Essen brachte man sich mit und saß dort Stunden, während die Kinder auf dem Spielplatz tobten.”

Ansichtskarte als wichtiges Kommunikationsmittel

Im Biergarten hatten die Leipziger auch Zeit, eine Ansichtskarte zu schreiben. Zwischen 1895 und 1990 war die Karte eines der wichtigsten Kommunikationsmittel, sagt der Historiker. Anfangs wurden vor allem Lithografien gedruckt, später Fotos. Bis 1907 durften die Karten nur auf der Vorderseite beschrieben werden. Hinten waren nur die Postanschrift und die Briefmarke erlaubt. „Es wurde jeder freie Raum beschrieben”, hat Nabert festgestellt. Er vergleicht die Ansichtskarte mit der heutigen Kurznachricht auf dem Smartphone. Ziel war es, in wenigen Sätzen viel mitzuteilen.

Die Mitglieder von Pro Leipzig brauchen Ihre Hilfe, liebe Leserinnen und Leser: Sie konnten bisher nicht herausfinden, wo dieses Blockhaus in Leutzsch stand. Wer es weiß, kann gern eine E-Mail schreiben an redaktion@leipzig-media.de
Die Mitglieder von Pro Leipzig brauchen Ihre Hilfe, liebe Leserinnen und Leser: Sie konnten bisher nicht herausfinden, wo dieses Blockhaus in Leutzsch stand. Wer es weiß, kann gern eine E-Mail schreiben an redaktion@leipzig-media.de

Das Schöne an den historischen Postkarten: Sie zeichnen ein Bild des Ortsteils zu einer bestimmten Zeit und verdeutlichen den Alltag der Menschen damals. So zeigt eine Karte die „Kleinkinderbewahranstalt”, eine andere den Blick vom ehemaligen Leutzscher Wasserturm, auf einer weiteren sind Eisenbahnerinnen zu sehen, die während des Ersten Weltkriegs den Job ihrer Männer übernahmen, die an der Front kämpften.

Viele Gebäude sind heute verschwunden

Die Verlage bildeten damals nicht nur das markante Rathaus von Leutzsch ab, sondern auch einzelne Straßenzüge und ihre Häuser. Viele Gebäude sind heute verschwunden. Der Leutzscher Wasserturm etwa wurde 1969 abgerissen. Ein baugleicher Turm steht heute noch in Groitzsch. Enorme bau­liche Veränderungen erlebte auch die Georg-Schwarz-Straße, wo es um 1900 mal ein Waisenhaus gab. „Es ist teils schwierig herauszufinden, wo ein bestimmtes Gebäude gestanden haben könnte”, gibt der Historiker zu. „Ansichtskarten sind immer Momentaufnahmen.”

Nicht immer ist außerdem klar, wann die Karte gedruckt wurde. Anhand des Poststempels wissen Nabert und seine Kollegen aber, wann diese verschickt wurde. Die Fülle an Leutzscher Motiven nimmt während der DDR-Zeit rapide ab. Die unansehnlichen Arbeitergebiete wollte die Staatsführung nicht abbilden. Die Ansichtskarte war bis zur Wende auf das Zentrum fokussiert. „Die Stadtteile fielen hinten runter.”

PostkartenBücher sind „Liebhaberei“

Um an die historischen Aufnahmen zu gelangen, arbeitet Thomas Nabert eng mit privaten Sammlern zusammen. Durch die guten Kontakte sei eine Vielzahl an Materialien zusammengekommen. Der Historiker betont, dass die Arbeit verbunden sei mit einer „enormen Datenfülle, die man im Kopf hat”. Und: „Alles muss logisch aufeinander aufbauen.” Auch wenn die Hälfte der Bücher, die in einer Auflage von 1300 Exemplaren erschienen sind, schon verkauft sind: Das Projekt rechne sich nicht, sagt der Pro-Leipzig-Chef. „Das ist sehr viel Liebhaberei.”

„Es ist eine viehische Arbeit, aber man setzt sich damit ein Denkmal.”

Von der Idee über die Recherche, das Texten, die Fotos bis zum Layout liegt alles in einer Hand. Auch die Verteilung der neuen Werke übernimmt Thomas Nabert persönlich. Dass Daten und Fakten in den ­Büchern stimmen, ist ihm als studierten Geschichtswissenschaftler enorm wichtig. „Es muss immer korrekt sein.”

Je älter er werde, desto mehr nehme sein Perfektionismus zu, gesteht Nabert. Sein Fazit: „Es ist eine viehische Arbeit, aber man setzt sich damit ein Denkmal.” Die Resonanz auf die Ansichtskartenbücher sei stets positiv. Viele Leipzigerinnen und Leipziger seien dankbar, dass er und seine Mitstreiter die Stadtgeschichte in dieser Form aufarbeiten. „Es ist auch eine große Ehre, so was zu machen.”

Finanzierung der Bücher ohne Hilfe der Stadt

Was dem Verein außerdem wichtig ist: Planung und Finanzierung der Bücher geschehen unabhängig von der Stadt Leipzig. Pro Leipzig versteht sich als kritische Stimme in der Stadt. Des Öfteren bezieht der Verein Stellung – etwa zu Bauprojekten in den Stadtbezirken und teilt nicht immer die Meinung der Bauplaner. Gegründet zu Wendezeiten, begleitet der Verein die Veränderungen in der Stadt und hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Bewohnerinnen und Bewohnern mehr Infos – etwa zur historischen Struktur – über ihren Ortsteil zur Verfügung zu stellen.

Das soll die Beteiligung der Menschen an politischen Prozessen erhöhen. „Dafür ist lokales Wissen unwahrscheinlich wichtig”, findet Nabert. Er ist der Meinung, dass sich viele Menschen mit dem Viertel, in das sie ziehen, stark identifizieren. Das gelinge aber nur, wenn jedes seinen individuellen Charakter behalte. „In 50 Jahren soll nicht jeder Ortsteil aussehen wie der andere.”

Thomas Nabert stammt ­ursprünglich aus Thale im Harz. Als Kind zog er mit seiner Familie nach Meuselwitz bei Altenburg. Während seines Geschichtsstudiums in Halle wohnte er Anfang der 80er-Jahre in einer sanierungsbedürften Wohnung in der Leipziger Friedrich-Ebert-Straße. Seitdem fühlt er sich der Messestadt verbunden und interessiert sich zunehmend für deren lokale Geschichte.

Thomas Nabert ist ein „Waldmensch“

Heute ist Nabert selbstständiger Publizist, wohnt mit seiner Frau seit 1996 in Knauthain – und fühlt sich am Rand der Stadt sehr wohl. „Ich bin in erster Linie ein Waldmensch, in zweiter Lesart Dorfmensch und erst in dritter ein Stadtmensch.” Trotzdem spaziert der Historiker immer wieder gern durch die Innenstadt, schaut sich an, wie sich diese verändert.

Naberts 30-jährige Tochter lebt in Berlin. Doch er hofft darauf, dass sie irgendwann zurück nach Leipzig zieht. „Hier ist es doch viel schöner als in der Hauptstadt.” Neben seinem Engagement im Verein treibt Nabert viel Sport und geht gemeinsam mit seiner Frau wandern. Teile des Jakobswegs haben sie schon gemeinsam zurückgelegt.

Pro Leipzig will in diesem Jahr jeweils einen Ansichtskartenband zu Zwenkau und Markkleeberg herausgeben. Auch ein Buch über die Geschichte des Matthäikirchhofs ist noch für dieses Jahr geplant. An den Ruhestand denkt der Freiberufler derzeit nicht. „Ich hab noch so viele Projekte im Kopf.” Eines davon betrifft den Verein direkt: Nabert hat vor, die Geschichte von Pro Leipzig aufzuschreiben. Da gäbe es nämlich viel Spannendes zu berichten.

Gina Apitz

„Leutzsch. Ein Leipziger Ortsteil auf alten Ansichtskarten“ kostet 22 Euro und kann über den Verein Pro Leipzig bestellt werden unter: www.proleipzig.eu

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