Wenn sie geholt werden, ist eine Tragödie passiert: ein Verkehrsunfall, ein Verbrechen, ein Todesfall. Tobias Hönig und Heike Stellmacher sind da für Menschen, die eine Ausnahmesituation erleben. Sie engagieren sich im Kriseninterventionsteam (KIT) in Leipzig. Geld bekommen sie dafür nicht, das Ganze läuft komplett ehrenamtlich.
Normalerweise bestreiten die Krisenberater, wie sie sich selbst nennen, ihre Einsätze allein. Doch beim jüngsten Anruf der Rettungsleitstelle waren beide zeitgleich gefordert. Grund war der Suizid eines Familienvaters. Mehrere Angehörige mussten vor Ort betreut werden. Die Mitglieder des Kriseninterventionsteams werden von Polizei, Feuerwehr oder Rettungsdienst alarmiert. Sie versuchen, in maximal 30 bis 45 Minuten am Einsatzort zu sein.
Ihr Auftrag besteht darin, den Menschen vor Ort eine mentale Stütze zu sein – Augenzeugen, Überlebenden, Ersthelfern und Hinterbliebenen. „Darin besteht unser Kerngeschäft”, erklärt Tobias Hönig, der Vorsitzende des KIT in Leipzig. Am häufigsten werden sie zu natürlichen Todesfällen gerufen. Immer dann, wenn der Eindruck entsteht, der oder die Hinterbliebene komme mit der Situation nicht gut zurecht. „Das sind die Standardeinsätze, wo ein Angehöriger schockiert ist und Hilfe sucht”, sagt Heike Stellmacher.
Erste Reaktionen auffangen
Je nach Lage agieren die Krisenhelfer unterschiedlich. „Wir versuchen erst mal Kontakt aufzunehmen und diese erste Reaktion, die dort passiert, aufzufangen”, sagt Hönig. Der Selbstmord eines nahen Angehörigen etwa kann unterschiedliche Reaktionen auslösen. Einige Menschen schreien oder sind völlig außer sich, andere erstarren geradezu, finden keine Worte. „Egal, ob der Mensch weint, schreit, sich die Haare ausreißt oder ganz still ist, das alles ist normal”, betont Hönig.
Heike Stellmacher ergänzt: „Manche Menschen sind so sprachlos, dass sie überhaupt nichts sagen können.” Solange sich der Angehörige nicht selbst verletzt, lassen die Krisenhelfer diese Reaktionen zu. „Wir bilden einen Rahmen für alles, was gerade passieren muss.” Das sei auch eine Entlastung für die anderen Einsatzkräfte vor Ort. Sie wissen: Da ist jemand, der sich um die Angehörigen kümmert.
„Wir begleiten den Menschen durch diese wirre Situation.”
Wie dieses Kümmern aussieht, unterscheidet sich von Fall zu Fall. „Wir sind einfach da”, fasst Heike Stellmacher das Ganze zusammen, „und helfen in einer akuten Belastungssituation”. Das kann sein, miteinander zu schweigen oder dem anderen eine Hand auf die Schulter zu legen. Die Helfer wollen vor allem eines vermitteln: Stabilität und Ruhe, das Gefühl eines „Fels in der Brandung”. Im nächsten Schritt helfen sie dabei, „die Situation zu strukturieren”, sagt Tobias Hönig. Sie erklären, warum etwa die Rechtsmedizin kommt oder die Kriminalpolizei da ist. „Wir begleiten den Menschen durch diese wirre Situation.”
Hönig und sein Team überlegen, wer der Person jetzt hilfreich zur Seite stehen könnte, wer ihr Halt geben kann. Die Krisenberater sind nur einmalig vor Ort und verlassen den Betroffenen nach einer gewissen Zeit wieder. Im Anschluss werden Angehörige, Freunde oder Nachbarn aktiviert – in Abstimmung, versteht sich. Sie geben dem Betroffenen außerdem Infomaterial an die Hand, wo er oder sie sich Hilfe suchen kann – etwa die Nummer der Telefonseelsorge, Selbsthilfegruppen, Trauercafés und Opferberatungsstellen. Im Auto haben die Helfer stets einen Koffer mit Flyern, Kerzen, Kinderbüchern, Spielzeug, Decken und Essen.
Abschiednahme ermöglichen
Bei einem Todesfall versuchen sie zudem, eine Abschiednahme vor Ort zu ermöglichen. „Das sehen wir als Tor zur Trauerarbeit”, sagt Tobias Hönig. „Wenn man nur gehört hat, dass jemand verstorben ist, kann man das oft nicht so für sich annehmen.” Das Anfassen und Anschauen des Toten sei wichtig für das Begreifen, erklärt er. Der Angehörige könne dem Verstorbenen außerdem noch etwas Gutes mit auf den Weg geben.
Das große Ziel ist es, dass die Betreffenden mit der Situation zukünftig zurechtkommen und keine dauerhafte Störung entwickeln – etwa mit Albträumen oder Panikattacken. Studien hätten gezeigt: „Je eher man das Erlebte in die Normalität integriert und eine neue Normalität für sich findet, desto geringer ist die Gefahr, dass sich eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt”, so Hönig.
Der 34-Jährige ist seit 2018 an Bord – und hat schon so einiges miterlebt. In Erinnerung bleiben ihm vor allem die Einsätze mit Kindern oder solche, wo besonders viele Menschen betreut werden müssen. Heike Stellmacher machen Einsätze, bei denen Gewalt eine Rolle spielt oder ein Verbrechen geschehen ist, zu schaffen. Und solche mit pubertierenden Jungs, sagt sie, etwa wenn ein Elternteil verstorben ist. Diese Situationen erinnert sie sehr an ihren eigenen inzwischen erwachsenen Sohn. „Die Jungs würde ich am liebsten mit nach Hause nehmen und das Elternteil ersetzen”, gesteht sie. „Da muss ich sehr auf mich aufpassen, dass ich hinterher den Reißverschluss zu meiner Emotion wieder gut zukriege.”
Psycho-Hygiene ist sehr wichtig
Wie gehen die Helfer selbst mit diesen belastenden Situationen um? „Psycho-Hygiene spielt bei uns eine große Rolle”, sagt Tobias Hönig. Nach einem Einsatz können die Berater mit dem Einsatzleiter telefonieren und über die Situation sprechen. Außerdem schreiben sie ein Einsatzprotokoll und können Themen mit Supervisoren und anderen Ehrenamtlern besprechen.
Darüber hinaus hat jeder Ehrenamtliche eigene Strategien, wie er das Erlebte verarbeitet. „Ich gehe immer zu Fuß die Treppen runter, um mich bewusst vom Einsatzort wegzubewegen“, sagt Heike Stellmacher. Eine „imaginäre Dusche” helfe ihr dabei, „alles von sich abprasseln zu lassen”. Wie bei Tobias Hönig wummert bei ihr auf der Rückfahrt im Auto laute Musik. „Wenn es belastend war, muss man mal mitschreien können.” Am Einsatzort agierten die Helfer eher mit gedämpfter, ruhiger Stimme, sagt sie. „Dann braucht es diesen Gegenpart im Auto: „Laut mitsingen ist sehr entlastend.”
Bei aller Professionalität kommt es manchmal vor, dass Stellmacher bei den Geschichten, die sie vor Ort erfährt, die Tränen kommen, weil sie sie so sehr berühren. Die eigenen Emotionen versuchen die Krisenhelfer so weit wie möglich nach hinten zu schieben. Der Fokus liege im Einsatz schließlich auf dem Menschen, dem sie helfen wollen.
Mit der Polizei Todesnachrichten überbringen
Zu den Aufgaben der Ehrenamtler gehört es auch, gemeinsam mit der Polizei etwa nach schweren Unfällen Todesnachrichten zu überbringen und die Angehörigen dabei zu begleiten. Das Problem: In den sozialen Medien werden Informationen inzwischen rasend schnell verbreitet. „Wir wollen verhindern, dass die Angehörigen den Tod einer nahe stehenden Person aus den Medien erfahren”, sagt Stellmacher.
Ein bis zwei 24-Stunden-Bereitschaftsdienste übernimmt jeder Krisenberater im Monat. Dann muss er jederzeit abrufbereit sein. Im KIT in Leipzig engagieren sich derzeit 32 Aktive, dazu gibt es zwischen fünf bis zehn Hospitanten, die sich noch in der Ausbildung befinden. „Unsere größte Not besteht darin, den Dienstplan zu füllen”, schildert Heike Stellmacher ein Problem des Vereins. Denn die Einsatzzahlen steigen kontinuierlich an.
„In den ersten vier Monaten dieses Jahres hatten wir schon zwölf Parallelalarmierungen und drei Doppeleinsätze, wo mehr als ein Ehrenamtlicher gefordert war.”
Wurden die Krisenberater in den vergangenen fünf Jahren im Schnitt 100 bis 175 Mal im Jahr gerufen, absolvierten sie im Vorjahr 275 Einsätze. „In den ersten vier Monaten dieses Jahres hatten wir schon zwölf Parallelalarmierungen und drei Doppeleinsätze, wo mehr als ein Ehrenamtlicher gefordert war”, schildert Tobias Hönig. Im schlimmsten Fall könne er dann niemanden zum Unglücksort schicken – eine Situation, die der Vereinschef unbedingt verhindern will. Seine Vision ist es deshalb, alle Dienste doppelt zu besetzen. Doch dafür braucht es mehr Ehrenamtliche.
Freizeit fürs Ehrenamt opfern
Nicht jeder ist bereit, seine Freizeit zu opfern, um Menschen in Krisensituationen zu helfen. Man benötige zum einen „die Bereitschaft und den Mut, sich solchen Situationen zu stellen”, sagt Heike Stellmacher. Zum anderen muss das Ehrenamt zur persönlichen Lebenssituation passen. Man sollte überlegen, ob der eigene Partner oder die Partnerin das Engagement mitträgt, sagt Hönig. „Vielleicht sitzt man gemeinsam beim Abendessen und das Telefon klingelt und man muss los.”
Im August werden wieder neue Krisenberaterinnen und -berater angelernt. An fünf Wochenende werden die Bewerberinnen und Bewerber ausgebildet. Nach einem Theorieteil mit Rollenspielen folgt die Praxis. Sie hospitieren beim Rettungsdienst, schauen sich eine Leichenversorgung bei einem Bestatter an und begleiten zuletzt fünf Einsätze. „Wenn sie sich gewappnet fühlen, geht’s auf in die eigenen Dienste”, sagt Hönig.
Heike Stellmacher hat Tobias Hönig vor Jahren selbst ausgebildet. Die 54-Jährige fühlt sich ein bisschen als seine „Mentorin” oder „Mama”, sagt sie scherzhaft. Die gebürtige Leipzigerin fand 2014 zu dem Ehrenamt. „Es ist ein Ausgleich zu dem, was ich auf Arbeit habe. Da sind Gesetze, Vorschriften und Geld wichtig.” Die Ingenieurin für Hochbau arbeitet im Rechnungsprüfungsamt der Stadt.
Soziale und psychologische Aspekte sind relevant
Beim Kriseninterventionsteam seien soziale und psychologische Aspekte relevant, ein völlig anderes Terrain. Ihrem Partner und dem 23-jährigen Sohn erzählt Stellmacher nichts von ihren Einsätzen. Doch sie holte sich das Okay von der Familie, als sie sich vor zehn Jahren für das Ehrenamt entschied. „Für meinen Sohn war es in Ordnung, dass er morgens auch mal allein aufsteht und frühstückt und die Mama nicht da ist”, sagt sie.
Tobias Hönig arbeitet als Sozialpädagoge in einem Wohnheim der Diakonie für Menschen mit Behinderung. Er sagt, das Ehrenamt lasse sich ganz gut mit dem Job vereinbaren. Seine KIT-Dienste legt er meistens auf Tage, an denen er frei hat. Mit seinem Partner spricht Hönig nicht über die Fälle, zu denen er zu Hilfe gerufen wird.
„Man kann sich auf einen Menschen konzentrieren, dem es nicht gut geht – und zwar ohne Zeitdruck.”
Er halte sich da an die Schweigepflicht. Für ihn stellt die Arbeit als Krisenberater ein „sinnvolles Hobby” dar. „Man kann sich auf einen Menschen konzentrieren, dem es nicht gut geht – und zwar ohne Zeitdruck.” Hilfe in der akuten Not zu leisten, das ist ihm wichtig. Und Stellmacher findet: „Das Ehrenamt relativiert ein bisschen die eigenen Sorgen.” Der Dank der Betroffenen sei als Lohn nicht zu unterschätzen.
KIT bekam goldene Ehrennadel
Ende Mai wurden die Helfer für ihr Engagement auf besondere Weise ausgezeichnet: Hönig und Stellmacher bekamen die goldene Ehrennadel der Stadt Leipzig – überreicht von Oberbürgermeister Burkhardt Jung persönlich. „Wir sehen es als Ansporn, sich als Team weiterzuentwickeln”, sagt Tobias Hönig. Derzeit bereiten sich die Krisenberater schon auf ein Großevent im kommenden Jahr vor: Zur Fußball-EM 2024 rechnen sie mit einer Reihe von psycho- sozialen Notfällen – etwa Unfälle oder ein Herzinfarkt im Stadion. Was sie genau erwartet, wissen sie vorab nicht. Aber sie sind für jede Krise gewappnet.
Gina Apitz