Leipzig. Es weht ein frischer Wind am Ufer des Cospudener Sees nahe des Hafens. Anke John trägt einen dicken Pullover, eine Weste und ein Käppi – ihr Markenzeichen – und marschiert los. Wir haben uns heute zum Spazierengehen verabredet. Anke John ist Profi darin, hat das gemeinsame Laufen gar zu einer Profession gemacht. Die 43-Jährige nennt sich Spaziergeberin – und geht gegen Bezahlung mit fremden Menschen raus in die Natur.
Am Beginn unserer Tour treffen wir einen Mann, der nackt in den kalten See springt. „Der ist gebucht”, scherzt John und grinst. Persönlich würde sie nie in das eisige Wasser hüpfen, aber: „Ich find das gut, wenn Leute etwas für sich tun.” Sich Zeit nehmen für sich – das ist auch die Idee der Spaziergeberin.
John richtet sich dabei nach den Wünschen ihres Gegenübers. Auch das Lauftempo bestimmt die andere Person. Wir sind heute eher gemütlich unterwegs und gehen nebeneinander direkt am Seeufer Richtung Nordstrand. Es kommt vor, dass jemand gar nicht reden will. „Eine Frau wollte einfach nur laufen und dabei nicht alleine sein”, erzählt John. Die Spaziergeberin kann Fragen stellen oder einfach nur zuhören. Gebucht wird sie meistens von Frauen ungefähr im gleichen Alter. Wenn diese jemanden treffen, der sie kennt, können sie vorgeben, dass sie mit einer Freundin spazieren gehen.
Es gab auch schon Anfragen für die eigenen Eltern, die nicht mehr aus dem Haus kommen. Die Kinder selbst sind zu beschäftigt dafür, mit ihnen rauszugehen. Seitdem gibt Anke John auch Geschenkgutscheine heraus. Eine Stunde spazieren kostet 25 Euro.
Spazieren geht Anke John nur mit Frauen oder Jugendlichen, nicht mit Männern. „Ich hab das Gefühl, dass es zwischen gleichen Geschlechtern einfacher ist, zu reden”, sagt sie. Zumindest sei das bei Fremden der Fall. Hinzu komme noch das „Mann-Frau-Ding“, wie John es nennt. Sie möchte nicht „abgecheckt” werden. Der Spaziergang soll kein Date sein. „Ich möchte eine entspannte Unterhaltung führen”, sagt sie, „und keine Avancen bekommen.“
Auf die Idee, gegen Geld mit Fremden spazieren zu gehen, kam sie aus der Not heraus. Eigentlich ist Anke John Schriftstellerin, schreibt Romane und Kinderbücher. Viele Lesungen fielen wegen der Corona-Pandemie weg. Die Autorin hatte Zeit und machte das, was im Lockdown fast alle taten: Sie ging nach draußen.
„Spazieren gehen gleicht mich persönlich super aus – die Natur, die Ruhe, Menschen beobachten, das macht mich glücklich”, sagt sie und merkte: „Es braucht gar nicht viel, um runterzukommen und bei sich zu sein.” Dann kam ihr der Gedanke: „Das müssten viel mehr Menschen erleben.” Aus ihrem Umfeld kennt sie viele Leute, die sich wenig Zeit für sich selbst nehmen. „Sie hetzen von Termin zu Termin und haben immer unfassbar viel zu tun. Es fehlt an Atemzeit”, sagt John. Spazieren gehen sei eine Form der Entschleunigung, die sie weitergeben will.
Das Klischee, spazieren gehen nur alte Leute, habe sich während der Pandemie überholt. Das draußen Laufen erlebte – auch mangels Alternativen – einen neuen Boom. So traf Anke Johns Angebot sofort auf eine hohe Resonanz. Im Dezember vergangenen Jahres begann sie damit, Laternen mit kleinen Infozetteln zu bekleben.
Drei bis vier Spazier-Interessierte meldeten sich im Schnitt pro Woche – ein Anfang. Anke John reagiert auch auf spontane Anfragen: Sie geht mit demjenigen noch am selben Tag raus, wenn das gewünscht ist.
Was gesprochen wird, bleibt selbstverständlich geheim. John ist nicht selten Kummerkasten. Sie hört sich die Sorgen des anderen bereitwillig an. Und: Sie verurteilt ihr Gegenüber nicht. „Die Leute finden es gut, dass da jemand ist, der Zeit mit Ihnen verbringt und wertfrei zuhört”, glaubt sie. Es kann passieren, dass die Themen ihrer Spaziergänge irgendwann mal Eingang finden in ein neues Buch, dann werden die Geschichten aber anonymisiert.
Nach einer halben Stunde sind wir am Nordstrand des Cospudener Sees angekommen. Von hier aus stapfen wir wieder zurück zum Hafen. Diesmal auf dem asphaltierten Uferweg. Die Gegend rund um den Cospudener und Markkleeberger See eignet sich optimal fürs Spazierengehen, findet John. Als Wahlmarkkleebergerin kennt sie sich hier auch sehr gut aus. Generell richtet sie sich aber danach, wo die Leute wohnen, die sie buchen. Wer weit außerhalb von Leipzig lebt, muss zusätzlich ihre Fahrtkosten übernehmen.
Trotz ihrer neuen Tätigkeit geht Anke John auch privat weiterhin gern spazieren – allein oder mit Freunden. „Ich bin gern draußen.” Das Herumlaufen hält fit. Außerdem achte ihr Bruder – ein Personal Coach – auf ihre Gesundheit, verrät sie. Er hat ihr einen Trainingsplan zusammengestellt, der aus klassischer Fitness, Aerobic und Yoga besteht. „Ich bin super neugierig und probiere ständig etwas Neues aus”, sagt Anke John. Es klingt wie ihr Lebensmotto. Der Satz passt zu ihrer bewegten Biografie. John hat mit ihren 43 Jahren schon so viel erlebt, dass es für ein ganzes Leben reichen könnte: Ursprünglich ließ sich die gebürtige Berlinerin zu Bürokauffrau ausbilden, sattelte dann um zur Restaurantfachfrau im Berliner Hilton-Hotel. Sie arbeitete für die Nobelhotelkette in London, wollte aber lieber auf ein renommiertes Weingut. Sie bewarb sich weltweit um eine Ausbildung. Doch von den Weingütern kamen nur Absagen. „Ich bin so erzogen, dass ich immer ins oberste Regal greifen will. Wenn ich da nicht rankomme, komme ich wenigstens ans mittlere Regal.”
Für John hieß das: Sie kehrte dem Hilton den Rücken und kaufte sich ein One-Way-Ticket nach Kanada. Mit ihrem damaligen Freund baute sie sich einen alten Truck zum Wohnwagen um und reiste quer durch das Land. Diese Zeit hat sie später in ihrem Debütroman „Die Ungezähmte” verarbeitet, der unter ihrem Pseudonym Jerry J. Smith erschienen ist. Irgendwann fanden beide in Kanada ein Weingut, auf dem sie arbeiten konnten. John erledigte zuerst „niedere Tätigkeiten”, wurde dann aber Assistentin des Winzers, erzählt sie. Doch der Liebe wegen kehrte sie nach Deutschland zurück, studierte Kellerwirtschaft, arbeitete eine Zeit lang auf einem Weingut in Österreich.
Irgendwann ließ sie sich mit ihrem neuen Partner, den sie auch heiratete, in Markkleeberg nieder. Anke John orientierte sich wieder neu und ließ sich bei einer Tätowiererin in Markranstädt zeigen, wie man Bilder in die Haut sticht. „Ich wollte etwas Bleibendes schaffen”, sagt sie heute. Dann wurde sie schwanger. Und als ihre Tochter geboren wurde, stand diese an erster Stelle. Da ihr Mann beruflich viel unterwegs war, war Anke John oft mit dem Baby allein. Und so – wie hätte es anders sein können – kam ihr wieder eine neue berufliche Idee: Sie wollte jungen Mamas Unterstützung anbieten. Als „Babyfee” half John den Müttern in ihrem neuen Alltag, ging mit ihnen spazieren, machte Schlaf- und Esstraining – und war einfach da, sagt sie.
Irgendwann kam die Idee auf, mit dem Schreiben anzufangen. „Ich hab schon immer alles aufgeschrieben – vor allem meine Emotionen”, sagt John. Sie begann Romane und Kinderbücher zu schreiben, hatte Lesungen und arbeitete schließlich sogar als Ghostwriterin. Dann kam die Corona- Zwangspause – und wieder ein neues Projekt, das sie Spaziergeberin taufte. Ihre Tochter – heute zwölf Jahre alt – unterstützte sie bei dem Unterfangen.
Aktuell arbeitet Anke John an einem Drehbuch für einen Liebesfilm und an zwei neuen Kinderbüchern. Eins handelt von Nelly, der nuschelnden Nacktschnecke, die auch künstlerisch begabt ist. Der Text ist fertig, jetzt ist John gespannt darauf, wie die Geschichte illustriert wird.
Nach einer Stunde Fußmarsch sind wir wieder am Hafen des Cospudener Sees angekommen. Es fängt leicht zu regnen an. Anke John sagt, auch so ein Wetter mache ihr nichts aus. Sie habe ja das Käppi. Dann erwähnt sie noch, dass sie einmal doch mit einem Mann spazieren war. Der wollte selbst Spaziergeber werden für Männer. Vielleicht hat Anke John damit einen neuen Trend angestoßen. „Das wäre doch toll”, sagt sie lächelt verschmitzt. Gina Apitz
Mehr Infos zu Anke John gibt es im Netz unter www.die-spaziergeberin.de.