Stadtförster Andreas Sickert steht vor einer alten Eiche. Diese Baumart pflanzt er mit seinem Team im Leipziger Auwald. Foto: Christian Modla

Leipzig. In den Schränken stapeln sich die Akten, auf dem Schreibtisch steht eine weiße Kaffeetasse, in den Vitrinen liegen Federn und ein Tierschädel, an der Wand hängt ein Paar antiker Schneeschuhe. Das Büro von Stadtförster Andreas Sickert ist eine Mischung aus Verwaltungsamt und Naturkundemuseum.

Der Raum beschreibt sehr gut die zwei Welten, zwischen denen der 62-Jährige fast täglich pendelt – auf der einen Seite der Wald, das Draußen, auf der anderen Seite der manchmal dröge Verwaltungsapparat, das Drinnen. Auf den ersten Blick sieht Sickert mehr wie ein Naturbursche aus: Pferdeschwanz, dunkelgrüne Jeans, schwere Arbeitsschuhe. Doch das romantische Klischee vom Förster, der den ganzen Tag durch die Natur streift, trifft natürlich nicht zu. Ein typischer Arbeitstag, das heißt für Sickert Papierkrieg: Stellungnahmen schreiben, E-Mails checken, Aufgaben an sein insgesamt 30-köpfiges Team verteilen. Nur zehn Prozent seiner Tätigkeit spielen sich außerhalb des Büros ab. Und dennoch: „Ich komme öfter in den Wald als ein normaler Verwaltungsmitarbeiter.“ Manches lässt sich eben nicht vom Schreibtisch aus erledigen. Sickert muss oft raus, sich die Situation vor Ort anschauen, um Maßnahmen festzulegen.

Seine Behörde ist zuständig für den 2000 Hektar großen Leipziger Stadtwald und beaufsichtigt auch die Privatwaldbesitzer. Seine derzeit größte Baustelle: die kranken Bäume. Seit 2012 kämpft der Förster gegen das Eschentriebsterben. Eschen nehmen 30 bis 40 Prozent der Fläche des Stadtwaldes ein. „Es ist die Baumart, die am häufigsten vorkommt“, sagt Sickert. „Und ausgerechnet die hat nun eine Krankheit, verursacht durch einen Pilz.“ Das Weiße Stengelbecherchen setzt den Bäumen zu und führt dazu, dass die Eschen zum großen Teil absterben oder zumindest stark geschädigt sind. Das zweite Problem: Der Eschenbastkäfer befällt die geschwächten Bäume und trägt zusätzlich zu ihrem Absterben bei.

Zudem hat die nordamerikanische Rußrindenkrankheit den heimischen Ahorn befallen. 20 Prozent des Bestandes sind schon abgestorben, vom Rest ist über die Hälfte infiziert, sagt Sickert. Die Trockenheit der vergangenen Jahre habe den Schädling begünstigt. „Eschen und Ahorn zusammengerechnet, ist über die Hälfte des Baumbestandes absterbegefährdet“, sagt Sickert und sieht als Ursache dafür ganz klar den Klimawandel.

Die Folge: Es gibt mehr tote Bäume im Wald und das kann gefährlich sein. Manche krachen plötzlich auf Wanderwege, Spielplätze oder Bahnlinien. Vor allem in der Nonne sei es „ganz schlimm“, sagt Sickert. Die Gefahr von einem Ast verletzt zu werden, betreffe auch seine eigene Mannschaft, vor allem aber Spaziergänger. Das Betreten des Waldes geschieht zwar auf eigene Gefahr. „Es ist aber schon ein Unterschied, wenn der Wald zur Hälfte aus toten Bäumen besteht“, warnt der Stadtförster. Aufhalten kann er diese Entwicklung nicht. Er kann die Bäume nur fällen lassen oder Totholz aus der Krone entfernen. „Wir haben hunderttausende Euro dafür ausgegeben, dass der Bürger keine überdimensionale Gefahr vorfindet, wenn er in den Wald geht.“

Inzwischen werden viele der abgestorbenen Bäume vor allem im Auenwald liegen gelassen. Sie sind ein wichtiger Lebensraum für Käfer und andere Mikroorganismen. 50 Kubikmeter Totholz pro Hektar sollen es künftig sein. Ein Ziel, das durch das Baumsterben vermutlich schnell erreicht wird, prognostiziert Sickert. Gleichzeitig pflanzt die Abteilung Stadtforsten neue Bäume, vor allem Eichen, Linden, Hainbuchen und Feldahorne. „Das sind Baumarten, von denen wir die Hoffnung haben, dass sie gegen die Auswirkungen des Klimawandels resistenter sind.“

Den Argumenten einiger Naturschützer, die fordern, den Wald am besten sich selbst zu überlassen, kann der Stadtförster nichts abgewinnen. „Wissen Sie, was dann passieren würde?“, fragt Sickert rhetorisch. Es würden nur noch Ahorne wachsen, die schnell absterben. Perspektivisch würde aus dem Wald eine Buschlandschaft werden. „Der Auenwald ist unter dem Einfluss des Menschen entstanden“, betont Sickert. Schon lange wurden Stieleiche, Winterlinde und Hainbuche gepflanzt. So bekam der Wald sein heutiges Aussehen mit den Schatten spendenden alten Bäumen.

„Naturschutz ist nicht bloß wachsen lassen“, findet der Förster. „Es ist erforderlich, dass wir als Mensch eingreifen. Wenn ich das Ökosystem erhalten will, muss ich auch Bäume fällen.“ Sickert weiß, dass es dafür in der Öffentlichkeit manchmal wenig Verständnis gibt. Doch Fällungen gehören aus seiner Sicht zum Naturschutz dazu und sicherten letztlich die Artenvielfalt. Beides seien die wichtigsten Aufgaben seines Amtes.

Seine Behörde ist nicht nur für die Flora, sondern auch für die Fauna zuständig. Sie beaufsichtigt die örtliche Jagdbehörde, achtet darauf, dass Gesetze eingehalten werden. Wer in Sickerts Mannschaft will, muss einen Jagdschein haben. Seine Mitarbeiter und er bejagen eine Fläche von 3500 Quadratmetern. Normalerweise geht der Förster ein, zweimal pro Woche mit dem Gewehr raus, immer nach der Arbeitszeit. Füchse, Waschbären, Rehe und Wildschweine nimmt er dann ins Visier. Vor allem bei Letzteren soll die Population dünn gehalten werden. Die Afrikanische Schweinepest rückt näher, hat Leipzig allerdings bisher nicht erreicht. Falls doch, sind Sickert und sein Team vorbereitet. Gemeinsam mit dem Veterinäramt hat seine Behörde Notfallpläne erstellt. Schutzanzüge liegen bereit, eine Drohne steht für Untersuchungen aus der Luft zur Verfügung. Sickert hofft, dass nichts davon zum Einsatz kommt.

Wenn der Förster mal keine Probleme wälzen will, kann er sich einer schönen Aufgabe widmen: Er ist auch Chef des Leipziger Wildparks. Seit Kurzem lebt hier ein Bucharahirsch, der eigentlich in Afghanistan heimisch ist. Er wurde in einem Teil des ehemaligen Elchgeheges untergebracht. Die beiden Elche sind vor einer Weile an Altersschwäche gestorben. „Einer war fast 30 Jahre alt, in der Natur hätte ihn schon ein Wolf gerissen“, sagt Sickert.

Sieben Monate war der Wildpark während der Corona-Pandemie geschlossen. „Die Tiere haben es genossen, es war Ruhe“, sagt Sickert. Währen viele Tierparks unter den fehlenden Eintrittsgeldern litten, tangierte das den kostenfreien Park nur am Rande. Es habe zwar Ausfälle an Spenden gegeben. „Wir haben das schon gemerkt. Es war aber nicht so verheerend wie in anderen Zoos, die auf Einnahmen angewiesen sind“, sagt Sickert. Die Pandemie sei vielmehr für den Leipziger Stadtwald eine „Wahnsinnsbelastung“ gewesen. Während des Lockdowns zog es auf einmal Hunderte in die Natur. „Die Leute haben sich im Wald teilweise wirklich schlecht benommen“, ärgert sich Andreas Sickert. Es habe illegale Partys mit Zerstörungen gegeben, viele hätten Picknicks veranstaltet und hinterher ihren Müll einfach liegen gelassen.

Seine Behörde koordiniert zusammen mit der Stadtreinigung Müllsammelaktionen in den Leipziger Wäldern. „Teilweise werden ganze Lkw-Ladungen an Abfall gefunden“, konstatiert Sickert. Es ist ein breites Aufgabenspektrum, das der Stadtförster und sein Team abdecken. Und nicht immer bekommen sie dafür Anerkennung. Trotzdem war Förster für Andreas Sickert schon als Kindergartenkind der Traumberuf, erinnert er sich. Nach einer Berufsausbildung mit Abitur als Gießereifacharbeiter studierte er zunächst ein paar Semester Chemie, brach dann allerdings ab und fing als Hilfsarbeiter im Forst an. Sickert arbeitete sich von „ganz unten“ hoch bis zur Leitung der Behörde. „In den Wäldern, in denen ich als Kind Buden gebaut habe, bin ich jetzt der Chef“, sagt er.

Neben der Natur interessiert sich Andreas Sickert fürs Bergsteigen in der Schweiz, die Weltraumforschung und Sprachen. Russisch, Englisch und Spanisch spricht er ganz gut, auf Spanisch und Englisch hält er ab und an sogar Vorträge. Russisch lernte er noch in der Schule, Spanisch später an der Volkshochschule und bei Englisch hilft ihm sein familiärer Hintergrund: „Ein großer Teil meiner Verwandtschaft ist Muttersprachler“, erzählt er. Einige Tanten und Onkel leben in Australien und Kanada. Ab und an hat er sie schon besucht.

Für den Indianer-Stamm der Cree-Indianer interessierte er sich schon, seit er zwölf Jahre alt war, las viele Romane zum Thema. Auch diese Sprache spricht Andreas Sickert ein bisschen. Gelernt hat er sie mit Hilfe von Onlinekursen. „Tanse – das heißt Hallo“, sagt er und grinst. Gemeinsam mit Indianern ging Sickert in Kanada sogar auf die Jagd. Mal wieder nach Kanada fahren, das wünscht sich der 62-Jährige sehr. Vielleicht auch noch eine neue Sprache lernen, beides kann er sich für die Zukunft vorstellen. Die Begabung dafür liegt in der Familie. Seine beiden Töchter – eineiige Zwillinge – haben gerade Abitur gemacht. Eine hat sich für Altorientalistik eingeschrieben, die andere für Sinologie. „Beide haben ein sehr hohes Sprachtalent“, sagt Sickert stolz. Sie lernen Japanisch, Arabisch, und Chinesisch.

Und wie sieht die Zukunft des Leipziger Waldes aus? Der Umbau wird weitergehen, ist Sickert überzeugt. Und noch ein Projekt steht in nächster Zeit an: Der Wildpark muss grundsaniert und damit moderner werden, sagt der Förster. „Die Gehege sind in die Jahre gekommen.“ Die Anlagen sollen künftig besucherfreundlicher gestaltet werden – etwa mit Aussichtsplattformen – und den Ansprüchen einer modernen Tierhaltung besser gerecht werden. Und Hirsch, Mufflon, Fuchs und Co. sollen sich künftig noch wohler fühlen. Ihre Gehege bekommen neue Pflanzen und die Möglichkeit die Tiere „zu bespaßen“, sagt Sickert.

Wenn man Sickert fragt, wo er sich am wohlsten fühlt, sagt er – natürlich – im Wald. Doch dann überlegt er kurz. „Ich bin aber auch gern in der Prärie.“ In einer Landschaft ganz ohne Bäume. Gina Apitz

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