Es nieselt an diesem Tag im November. Der Uniriese in der Leipziger City ist in Nebel gehüllt. Eine Frau in brauner Steppjacke stapft tapfer durch den grauen Tag und bleibt am Mendebrunnen auf dem Augustusplatz stehen. Hier beginnt das Revier von Heike Scheller, 66 Jahre alt, studierte Architektin und seit wenigen Wochen Stadtplanerin im Ruhestand.
Seit 1990 arbeitete sie für die Behörde, beschäftigte sich mit den bürokratischen Finessen der Stadtplanung und begleitete den Wandel Leipzigs seit der Wiedervereinigung. „Ich habe mein Leben lang nichts anderes gemacht, als mich mit dem Stadtzentrum zu befassen”, sagt Scheller. Das heißt, Sie kennen hier praktisch jedes Haus und jeden Stein? „So ungefähr”, sagt Scheller und lacht.
Größter Bauboom zwischen 1996 und 2000
Seit 1990 hat sich in der City so einiges verändert. In der Zeit nach der Wende rückten die Baukräne an und blieben viele Jahre lang hier stehen. „Den größten Bauboom gab es zwischen 1996 und 2000”, erinnert sich die Planerin. Allein in der Hainstraße gab es zu dieser Zeit elf Baustellen. Danach begannen weitere Großprojekte: Kaufhof, Karstadt, der Petersbogen, zählt sie auf. Der Augustusplatz wurde 1998 fertig. Veränderungen brachte hier der Bau der Tiefgarage – die Autos vor der Oper verschwanden. „Die ganze Nordseite stand voll mit ihnen”, erinnert sich Scheller und blickt dann Richtung Paulinum. „Die größten Diskussionen gab es nach der Wende um das Universitätsareal.”
2009 beging die Uni ihren 600. Jahrestag. Die maroden Gebäude sollten dafür schick gemacht werden. Anfang der 2000er-Jahre wurde ein Wettbewerb ausgelobt, den ein junges Münsteraner Büro gewann. Nach deren Entwürfen wurde die Mensa am Park, das Hörsaalgebäude und das Seminargebäude modernisiert. „Nur um die Front zum Augustusplatz gab es heftige Diskussionen”, sagt Heike Scheller. Der ursprüngliche Entwurf für das Augusteum war „eher quadratisch, praktisch, gut”, berichtet sie, „aber das hat nicht genügt”.
Paulinum und Neues Augusteum entstehen
Einige Zeit später wurde stattdessen der Entwurf des niederländischen Architekten Erick van Egeraat für das Paulinum und das Neue Augusteum umgesetzt. „Das Ergebnis war umstritten.” Die beiden Gebäude sind viel größer als die ursprüngliche Kirche mit ihren Nebengebäuden. Scheller findet, dass das Ganze vom Maßstab her zu dem großen Platz gut passt. Viele Leipziger hätten sich einen Wiederaufbau der 1968 gesprengten Paulinerkirche gewünscht. Doch dazu kam es nicht.
Auch die Pläne für das Hauptpostgebäude fielen nicht so aus, wie der Bauherr sie haben wollte. Statt eines zweigeschossigen Aufbaus wurde ihm nur eines erlaubt. „Alles andere wäre zu viel gewesen”, findet Scheller nach wie vor. Die sogenannte Vorhangfassade, eine Art äußere Hülle, wurde in den Neunzigern ebenfalls erneuert. Das Haus steht deshalb unter Denkmalschutz.
Kino Capitol wurde geschlossen
Heike Scheller läuft nun Richtung Marktplatz, durch die Mädlerpassage und die Messehofpassage zur Petersstraße. Im Petershof logierte bis in die 2000er-Jahre das Kino Capitol, das heute ein Klamottengeschäft ist. Scheller steht jetzt mitten im Laden, im Lichthof, der neben der Fassade als einziges erhalten geblieben ist.
Früher roch es hier nach Popcorn, erzählt sie. Heute zieht Kaffeeduft durch den Raum, weil man direkt im Laden Heißgetränke bestellen kann. Von der „wunderbaren Wendeltreppe” und den angrenzenden Aufzügen ist nichts mehr zu sehen. Heike Scheller bedauert das: „Es war ein fantastisches ingenieurtechnisches Denkmal.”
Doch sie sagt auch: „Das Kino war Anfang der Neunziger massiv in der Krise.” Das Capitol hatte nur einen großen Saal. Das war nicht mehr zeitgemäß. „Ein leer stehendes verfallendes Denkmal ist auch nicht der Hit“, resümiert die Planerin. „Das sind Überlegungen, die abgewogen werden.” Das Kino musste schließen, ein Kaufhaus zog ein, ging jedoch bereits fünf Jahre später pleite. „Das ist die Schnelllebigkeit der Entwicklungen. Dafür wird manchmal viel aufgegeben”, findet Scheller.
Bedauern um das Messehaus am Markt
Auch an anderen Stellen in der Innenstadt hätte die Stadtplanerin sich gewünscht, dass Häuser erhalten geblieben wären – etwa beim Messehaus am Markt, das aus den 1960er-Jahren stammte und nach der Wende einem Neubau weichen musste. Auch das Konsument-Warenhaus am Brühl – „die Blechbüchse“ hätte sie gern erhalten. Auch da rückten am Ende die Abrissbagger an – und die Höfe am Brühl als Shoppingcenter neu erbaut.
Doch in ihrer Funktion konnte sie auf die Entwicklungen in der City nur begrenzt Einfluss nehmen. Sie habe ihre Meinung klar geäußert, betroffen.” Gerade im Stadtzentrum wurde alles stets „auf höchster Ebene” entschieden. Die Verantwortung für ein Gebäude teilen sich der Bauherr, der Architekt, die Stadt und die ausführende Firma, zählt Scheller auf.
Historischen Stadtgrundriss wieder herstellen
Für die Stadtplaner lautete die oberste Maxime: den historischen Stadtgrundriss wieder herstellen. Heike Scheller findet, jede Zeit habe in der Bebauung ihre Berechtigung. „Man sollte Epochen nicht ausradieren. Das macht eine Stadt lebendig.” Nach Jahrzehnten im Job findet sie: „Das haben wir im Wesentlichen ganz gut hingekriegt.”
Natürlich gab es in der City auch „Sorgenkinder”, denen sich die Beamtin widmen musste. Die von den Leipzigern nur als „Burgplatzloch” bezeichnete Investruine etwa bestand 21 Jahre lang. 2019 eröffnete dort ein Hotel und die Stadtplaner konnten endlich einen Haken an die Dauerbaustelle machen. Und manchmal wehrten sich die Leipzigerinnen und Leipziger auch gegen bestimmte Baupläne. Die Grünfläche am Markt sollte ursprünglich ebenfalls zugebaut werden. Dagegen gab es massiven Protest aus der Bevölkerung – sie blieb erhalten.
Der Sachsenplatz musste dem Museumsquartier weichen
Heike Scheller geht nun schnellen Schrittes quer über den Marktplatz, vorbei am Alten Rathaus in Richtung des Museumsquartiers. Auch diese Ecke der Stadt war zwischenzeitlich heiß diskutiert – vor allem, weil der sogenannte Sachsenplatz den neuen Plänen weichen musste. „Den Platz vermissen viele alte Leipziger”, weiß sie.
Rückblick: Als nach der Wende beschlossen wird, dass das Bundesverwaltungsgericht nach Leipzig kommen soll, braucht die Stadt ein neues Gebäude für die Kunstsammlung des Museums der bildenden Künste. Die Werke lagern zu der Zeit als Interimslösung im Gerichtsgebäude.
Der Museum der bildenden Kunst als „gefasster Diamant“
Den Wettbewerb gewinnt damals ein Berliner Architektenbüro, das das Haus als eine Art „gefassten Diamanten” erbauen will. Mit seinen 36 Metern Höhe ist das 2004 eröffnete Museum höher als alle anderen Gebäude in der Stadt – eine Ausnahme, wie Scheller betont. Die radikale Architektur aus Beton, Glas und einer gläsernen Hülle gefällt nicht jedem. „Ich finde es fantastisch”, lautet ihr Urteil. Wenn die Stadtplanerin heute durch die City läuft, ist sie mit deren Erscheinungsbild zufrieden. „Ich bin stolz auf das Gesamtergebnis.”
Zwei Projekte stehen derzeit noch aus. Die will sie ihren Nachfolgern überlassen. Baustelle Nummer eins ist Deutrichs Hof, eine Baulücke neben dem erhalten gebliebenen Riquet Café. „Ich hoffe, dass es wieder aufgebaut wird.” Nummer betrifft die Entwicklung des Matthäikirchofs. Einige der ehemaligen Polizei- und Stasi-Bauten sollen abgerissen und ein „Forum für Freiheit und Bürgerrechte“ neu gebaut werden. „Das wird wohl die Kollegen noch ein Jahrzehnt beschäftigen”, prognostiziert Scheller.
Ruhestand bringt Zeit für Hobbys
Dass sie seit Anfang November im Ruhestand ist, habe sie indes noch nicht ganz realisiert, gibt die 66-Jährige zu. Aktuell ist sie noch einmal pro Woche im Rathaus, um Dinge zu erledigen, die liegen geblieben sind. Langweilig dürfte ihr in Zukunft nicht werden. Heike Scheller hat viele Ideen.
Für Hobbys blieb neben dem Beruf bisher nur wenig Zeit. Die neue Freiheit will sie nutzen – vielleicht eine Sprache lernen, wieder zeichnen oder sich für Kunstgeschichte oder Ägyptologie an der Uni einschreiben. Vielleicht den Sohn in Braunschweig öfter besuchen. Scheller muss erstmal sondieren, worauf sie Lust hat – gemeinsam mit ihrem Mann, der auch vor Kurzem in Rente gegangen ist.
Eines steht für sie auf jeden Fall fest: Heike Scheller will künftig Stadtführungen anbieten, mit Fokus auf Architektur, versteht sich. „Ich verplaudere mich gern”, sagt sie lächelnd. Das wundert nicht. Schließlich kann sie hier in der City jede Menge Geschichten erzählen – zu jeder Straße und jedem Haus. Gina Apitz