LEIPZIG. Das Besondere an seiner neuen Heimatstadt hatte Professor Martin Kürschner schnell erkannt – und auch verstanden, dass er dieses Besondere weitergeben muss. „Als ich noch ganz normaler Professor war und meinen Lehrraum am Dittrichring hatte, habe ich immer aus dem Fenster gezeigt“, erinnert er sich an seine ersten Jahre in Leipzig.
Was er seinen Studenten damit zeigen wollte, kann man bis zum heutigen Tag augenfällig sehen – „da ist beispielsweise die Thomaskirche, dort wurde die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach uraufgeführt. Es ist einfach ein Geschenk – dieser unglaubliche Reichtum, der in dieser Stadt zu finden ist“. Dabei ist Professor Martin Kürschner – inzwischen kein „normaler“ Professor mehr, sondern seit 2015 Rektor der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ (HMT) – alles andere als ein Traditionalist. Da ist sein spannender Lebenslauf. Und das eigene Credo, entlehnt verschiedenen Zitaten, die u. a. dem französischen Philosophen Jean Jaures, aber auch dem Komponisten Gustav Mahler zugeschrieben werden: „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe der Flamme.“
Da spricht eine Leidenschaft, die sich im erwähnten Lebenslauf von Professor Martin Kürschner immer wiederfindet. Er erinnert sich noch gut an seine ersten Klavierstunden als neunjähriger Junge, an die ersten Harmonien. Aber auch daran, dass er sofort den Reiz erkannte, diese Harmonien auch mal rückwärts zu spielen. „So bin ich nun mal aufgewachsen“, erzählt er mit einem Lächeln: „Da waren die Dinge nie in Stein gemeißelt. Aber von meinem Vater habe ich aus dem Handwerk heraus gelernt, die Dinge so zu machen, dass sie funktionieren.“
Und von einem positiven Sendungsbewusstsein, das ihn letztlich an die HMT gebracht hat. Auch da finden sich die Spuren im neunjährigen Martin Kürschner, dem Jungen nach der ersten Klavierstunde. „Ich weiß noch genau, dass ich dem Nachbarsjungen schon nach dieser ersten Stunde alles beigebracht habe, was ich gelernt hatte.“ Erst vor ein paar Tagen hat er eben diesen Jungen aus der Nachbarschaft wiedergetroffen – heute ist er Kirchenmusikdirektor. Das Weitergeben der Flamme – besser kann man dies wohl nicht machen …
Dabei schöpft Professor Martin Kürschner diese Leidenschaft zur musikalischen Flamme nicht zuletzt aus einer unstillbaren Neugier. Aus purem Entdeckergeist. Das führt zu ungewöhnlichen Entscheidungen: „Ich bin ja in den 70ern aufgewachsen und war damals von diesen riesigen Synthesizern unglaublich fasziniert. Und weil ich unbedingt verstehen wollte, wie diese Dinger funktionieren, habe ich eben noch ein Physikstudium drangehängt.“ Dies führt zu der interessanten Situation, dass der HMT-Rektor nicht nur Schulmusik („Doch, ich konnte mir schon gut vorstellen, einfach Lehrer an einer Schule zu sein – ich war mit Herz und Seele dabei.“), Komposition und Musikwissenschaft studiert hat, sondern eben auch Physik und Mathematik. Hilft es? Ja, irgendwie schon, findet er. „Man hat ein ziemlich gutes Verhältnis zu Zahlen und zum strukturierten Denken. Gerade die höhere Mathematik ist ja beinahe eine Denkschule“, überlegt Professor Martin Kürschner.
Irgendwie hat ihn diese Neugier dann auch nach Leipzig geführt. Obwohl oder vielleicht auch gerade weil er die Stadt überhaupt nicht kannte. Eigentlich gab es da zur Jahrtausendwende die Arbeit an der Akademie für Tonkunst in Darmstadt, an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Die Arbeit als Komponist, angetrieben von der „Lust am Klang, am Experiment“. Trotzdem machte er sich im Jahr 2001 auf den Weg nach Sachsen – auf eine wundersame Entdeckungsreise, von der er gern erzählt.
„Natürlich kannte ich die Musikstadt Leipzig in der Geschichte“, überlegt er: „Mehr aber auch nicht. Und als ich dann an einem Montag zum Vorstellungsgespräch nach Leipzig kam, bin ich im Anschluss noch durch die Innenstadt gelaufen. Dann stand ich auf einmal mittendrin in der Orgelabnahme in der Thomaskirche und hatte meine erste Gänsehaut, als ich am Grab von Johann Sebastian Bach stand.“ Später fand er die Nikolaikirche und stand mittendrin in den Montagsgebeten mit Pfarrer Christian Führer. „Solche Momente vergisst man nie. Diese Momente der gelebten Geschichte. Da fühlt man sich einfach gut.“
Inzwischen ist er – ja, man kann es so sagen – mit Leib und Seele Leipziger. Angekommen in einer Stadt, die er aber gern noch ein bisschen schöner, attraktiver, offener machen möchte. Da ist es wieder, dieses Sendungsbewusstsein. Das Weiterreichen der Flamme. „Es gibt etwas, das mir noch ein bisschen fehlt“, gibt er mit einem Lächeln zu: „Dieses selbstverständliche Bewusstsein für Neue Musik, das ich aus Darmstadt kenne.“ Dieses zu wecken, hat sich Professor Martin Kürschner auch auf die Fahnen geschrieben. Schon bei der Rektorenwahl machte er keinen Hehl aus seinem Ansatz: „Ihr wählt einen Komponisten – also wählt ihr auch neue Musik!“
Dass diese ihren Platz in der Leipziger Musiklandschaft findet, ist eben auch ein Verdienst der HMT – es gehört zu den ebenso spannenden wie geheimnisvollen Leipziger Fakten, dass die Hochschule wohl der größte Konzertveranstalter in der Messestadt ist. 700 (!) Konzerte und Veranstaltungen stehen pro Jahr (!) auf dem Veranstaltungsplan – natürlich auch im Jahr des 175. Hochschuljubiläums. „Felix Mendelssohn Bartholdy war schon ein kluger Kopf – er hat die Einrichtung genau 100 Jahre nach dem Gewandhaus gegründet und damit fallen die entsprechenden runden Geburtstage immer zusammen.“
Dabei ist diese schier gewaltige Zahl an Konzerten aber eben auch kein Selbstzweck – sondern nicht zuletzt die nötige Bühne für die Studenten der HMT. „Man braucht diese Erfahrungen“, erklärt der Rektor: „Man muss auch mal vor 20 Leuten spielen, ebenso wie
vor einem ausverkauften Haus.“ Und er denkt über die ganz neuen Aspekte des Musizierens nach, über Psychologie – und kommt wieder ins Schwärmen: „Es gibt da diese Idee, in Leipzig ein Netzwerk Musikmedizin aufzubauen – einfach, weil es die entsprechenden Kompetenzen gibt.“ Dann ergänzt er nachdenklich: „Die Ausbildung ist schon sehr komplex geworden. Es gibt so viele neue pädagogischen Aufgaben, die auf uns zukommen.“
Allein – Bangemachen gilt nicht. Professor Martin Kürschner sitzt auf jenem Stuhl, von dem aus man gestalten kann. Und er tut es – mit dem französischen Komponisten Professor Fabien Levy besetzte er wieder die zweiten Kompositionsprofessur an der HMT: „Weil ich möchte, dass die Studenten einen weiteren ästhetischen Ansatz neben dem von
Professor Claus-Steffen Mahnkopf kennenlernen sollen.“ Selbst in den eigenen vier Wänden organisiert er Konzerte – und freut sich riesig darüber, dass auch jener Installateur, der einst beim Hausbau dabei war, bis zum heutigen Tag zu diesen Konzerten kommt. Das Weitergeben der Flamme: „Was ich hier gefunden habe, ist ein bemerkenswertes Arbeitsethos. Diese hohe Qualität, die überall zum Tragen kommt. Und wenn ich beim Gang durch die Gänge der Hochschule jene strahlenden Gesichter sehe, denen etwas gelungen ist, dann weiß ich um das Schöne in meinem Beruf.“ J. Wagner
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