Leipzig. Die Wasserschenke ist ein hübsches weißes Häuschen mit rotem Ziegeldach. Es steht an einer Landstraße im Nirgendwo, eine halbe Autostunde von Leipzig entfernt. „Erfrischungsquelle“ steht auf seiner Fassade geschrieben. Das Geheimnis: Im Garten dahinter versteckt sich eine ganz besondere Quelle – jene, die den sogenannten Wunderbrunnen speist.
Sie sprudelt im kleinen Örtchen Seegel bei Pegau und wer mehr über den wundersamen Brunnen erfahren will, muss Andrea Auster treffen. Die 51-Jährige könnte man als den guten Geist des Wunderbrunnens bezeichnen. Auster kennt seine Geschichte, die Anekdoten, die sich um ihn ranken und sie verwaltet das zugehörige Grundstück, in dem heute Feriengäste übernachten.
In braunen Boots stapft sie durch das schlammige Gelände, vorbei an zwei Pferden, die in einem offenen Stall stehen, zu einem kleinen Haus mit Zwiebeltürmchen. Aus diesem Quellhaus fließt das Wasser über Rohre in ein kleines Becken, in dem die Gäste heute kneippen können. „Genau genommen ist es ein Band aus zwölf Quellen“, sagt Auster. Momentan tröpfelt das Wasser allerdings nur in das Becken. „Normalerweise kommt hier ein armdicker Strahl.“ Doch die heißen Sommer der vergangenen Jahre ließen die Quelle zwischenzeitlich versiegen. Es fehlten über eineinhalb Meter Wasser in den Röhren, die aus dem Brunnen ins Becken führen.
Seit 1646 ist der Brunnen eine verbriefte Mineralquelle, weiß Auster. „Die Leute sind hierher gepilgert, um in Zeiten großer Wasserknappheit Wasser zu holen.“ Daher der Name Wunderbrunnen. Und: „Es gibt Geschichten über Menschen, die gesund geworden sind, nachdem sie das Wasser aus der Quelle getrunken haben.“ Nicht nur Sommersprossen sollen damit kuriert worden sein, auch Blindheit und Krätze heilte das Wasser des Wunderbrunnens angeblich.
Wenn es sprudelte, gab das damals „ein großes Theater“, sagt Auster, die viele historische Texte zum Thema studiert hat. „Das war wie ein Volksfest.“ Die Menschen errichteten Biwaks und feierten das Quellwasser. „Wenn es weg war, war das hier einfach nur ein Acker.“ Familie Berger, die Vorfahren ihres Ex-Lebensgefährten Stefan Windau, kaufte das Areal plus Quelle um 1890 herum. Die Bergers errichteten eine Gaststätte, schenkten dort Mineralwasser aus – und bauten das Quellhaus. Noch vor dem Ersten Weltkrieg gab es in Seegel eine voll automatische Abfüllanlage. 1918 übernahm Alfred Berger – der Großvater von Stefan Windau – die Geschäfte. „Der war ein Tausendsassa: Er war Maler, Bildhauer und technisches Genie“, sagt Andrea Auster. Er designte die Putten, die heute noch auf dem Gelände stehen. Und: „Er hat dafür gesorgt, dass der Brunnen richtig bekannt wurde.“
Zeitweise gehörten Bergers zu den größten Arbeitgebern der Region. Die Gebäude wurden nach und nach erweitert. Bald transportierten Lkws statt Pferde die Kisten mit dem Mineralwasser zu den Kunden. „Der Zweite Weltkrieg hat der Sache das Genick gebrochen“, sagt Andrea Auster. Die Familie musste Wasser an die Wehrmacht liefern, es wurde teilweise nach Afrika verschifft. 60 000 Pfandflaschen sah Alfred Berger nie wieder, ein Großteil seines Kapitals. Zu DDR-Zeiten wurde der Hof dann zwangsverwaltet. Ab 1972 übernahm der Konsum den Betrieb und füllte noch bis 1984 dort Limonade ab. Dann stand das Anwesen viele Jahre leer und wucherte zu.
Bis Stefan Windau, der Nachfahre der Familie, und Andrea Auster das Gelände 2003 wieder wach küssten. „Es war alles vergammelt“, erinnert sich Auster noch an die ersten Besuche auf dem eineinhalb Hektar großen Gelände. Schritt für Schritt brachten die beiden die Gebäude wieder auf Vordermann. Sie bauten Küchen und Bäder ein, rissen Wände heraus, sanierten die Wasserschenke und machten daraus Ferienwohnungen. Wo es ging, legten sie selbst Hand an. Auster laugte die alten Türen ab und setzte sie wieder ein.
Vorderhaus, Quellhaus und Quellpark sind denkmalgeschützt, was die Sanierung nicht unbedingt leichter machte. Die kritischen Augen der Denkmalwächter blickten vor allem auf die historische Schenke. „Wir haben uns echt Mühe gegeben“, sagt Auster rückblickend. Doch bei der Abnahme wurde viel bemängelt. Sie ist auf den Denkmalschutz nicht gut zu sprechen.
Heute gibt es auf dem Gelände außerdem einen Pool, eine Sauna und seit neuestem einen beheizbaren Badezuber, der die Vermietung auch über den Winter attraktiv machen sollte. Andrea Auster, eigentlich studierte Anglistin, ging in ihrer neuen Rolle auf. „Ich hab mich um die Gäste und das Grundstück gekümmert“, sagt sie. Auch als die Beziehung des Paares vor sechs Jahren in die Brüche ging, blieb Auster dem Wunderbrunnnen treu. Vor allem im Sommer hat sie gut zu tun: Dann ist sie Gärtnerin, Tierpflegerin, Heumacherin, Bürokraft, Kommunikatorin und Empfangsdame, eine Art Mädchen für alles.
Und sie hatte schon immer eine enge Verbindung zu den Feriengästen, die nach Seegel kamen. Menschen, „die es einfach mögen“, die „einen Sinn für Stille haben“, sagt sie. Ihre Gäste waren „leise Menschen“, die mit dem Fahrrad anreisten. Auster machte mit ihnen Wildkräuterwanderungen, fuhr mit den Kindern Traktor, nahm sie zum Heumachen mit. In Seegel gab es schamanische Frauenwochenenden, Klangschalenmassagen und Yogatreffs. Auster sagt: „Dieses Stück Freiheit und Abenteuer, was ich so liebe, hab’ ich an die Gäste weitergegeben.“
Die Leiter des Erfurter Stadtarchivs, die mal zu Besuch waren, hatten Blasen an den Händen nach der Feldarbeit mit einer historischen Heugabel, erzählt Auster und lächelt. Das Team schickte später eine Postkarte: „Danke für diesen überirdisch schönen Urlaub.“ Sie sagt: „Man kann hier reinspüren in die befriedigende schwere Arbeit, die das Landleben mit sich bringt.“ Allerdings mit der Sicherheit des städtischen Komforts, gibt sie zu, mit Heizung, elektrischem Licht und Sauna.
Die Vermietung lief gut, bis Corona kam und die Gäste wegblieben. Ein halbes Jahr musste der Betrieb zuletzt ganz schließen. „Kein Weihnachtsgeschäft, kein Weihnachtsmarkt, kein Silvester“, zählt Auster auf. Das erste Coronajahr sei besonders hart gewesen: „Ich hätte weinen können.“ Die Coronahilfen seien nur ein schwacher Trost gewesen. Gleichzeitig habe ihr der Rhythmus des Landlebens bisher durch diese Zeit hindurch geholfen. Tiere füttern, sich um den Garten kümmern – all das muss in jedem Fall getan werden. „Hier ist viel Normalität geblieben.“ Auster nutzte die Schließzeit für Umbauarbeiten, entwarf ein neues Energiekonzept. Für April haben sich die ersten Gäste wieder angemeldet.
Obwohl das Leben auf dem Land für sie mit jeder Menge Arbeit verbunden ist, hat sie es bisher nicht bereut, damals von Leipzig raus aufs Dorf gezogen zu sein. „Für mich ist Lebensqualität Freiheit und Weite – und das alles hab ich hier“, sagt die energische Frau. „Ich freue mich auf jeden Tag.“ Auch ihre damals 14-jährige Tochter konnte sie vom Landleben überzeugen. Seitdem gehören auch ein Hund und zwei Pferde fest zum Haushalt. Ihr eigenes Pferd ist inzwischen zu alt zum Reiten. Mit ihm geht sie stattdessen spazieren, meistens am Werbener See, einer Oase der Ruhe. Austers Tochter ist inzwischen 23 und wohnt wieder in Leipzig. Einsam ist die Mutter trotzdem nicht. Sie ist gut vernetzt und voll integriert im Dorfleben. Einmal pro Woche fährt Auster in die Stadt zum Musikunterricht. Seit Kurzem lernt sie Klarinette, ein Herzenswunsch.
Und dann ist da noch ein neues Projekt, dem sie seit einer Weile einen Großteil ihrer Zeit widmet: die Imkerei. Wenn Auster erzählt, woher diese Leidenschaft rührt, erzählt sie von ihrer Zeit in England. Als Studentin lebte sie dort eine Zeit lang bei „waschechten Hippies“. Die Familie hatte einen „Zaubergarten“, Gänse, Ziegen und Bienen. „Da bin ich mit den Bienen das erste Mal in Berührung gekommen“, sagt sie heute und war von Anfang an fasziniert.
In der Stadt wäre es schwierig geworden, mit dem Imkern anzufangen. Doch hier draußen habe sie nun genug Platz für all die Utensilien, die dafür benötigt werden. Inzwischen erntet Auster ihren eigenen Honig – im Vorjahr war das eine Dreivierteltonne – und verkauft ihn sogar. Den Umgang mit den Insekten brachte sie sich selbst bei, machte dabei auch Fehler. „Die ersten Bienen hab ich nicht über den Winter gebracht“, erzählt sie. Doch mit der Zeit wurde es besser. Heute hat sie 30 Völker an verschiedenen Standorten. Einige stehen in der Elsteraue, vier auf dem Friedhof in Pegau und einige an einem Gebäude, das Auster nur das Bienenhaus nennt. Aus dem 2800 Quadratmeter großen grauen Betonwürfel ohne Fenster, der unweit des Wunderbrunnens steht, machte sie in kurzer Zeit ein gemütliches Quartier.
In dem ehemaligen Wasserwerk befinden sich heute eine Werkstatt, ein Schleuder- und Lagerraum, sowie ihr Büro und ein kleiner Laden mit Sofa und Bienenbibliothek. „Rundherum standen die Brennnesseln und Disteln so hoch“, zeigt Auster auf den Garten, der das Gebäude umgibt. Hier verkauft sie ihren Honig und andere Bienenprodukte, gibt Salbenworkshops und bietet Projekttage für Schulklassen an, rund um das Thema Bienen, versteht sich.
Inzwischen geht Austers Interesse weit über den Honig hinaus. Sie macht Fortbildungen, lernt mehr über die Bienen und weiß nun: „Sie können so viel mehr, auch heilen.“ Und dann sagt sie noch einen Satz, der wohl auch für ihr Engagement für den Wunderbrunnen gilt: „Leute, die Bienen haben, vereint eines – nämlich, dass sie das nie wieder loslassen wollen.“ Gina Apitz