Altenburg. Eine faszinierende, mit vielerlei zusammengetragenen Details versehene und liebevoll präsentierte Sonderausstellung zeigt das Naturkundemuseum Mauritianum in diesen Wochen. Genauer gesagt bereits seit September 2020. Doch kurz auf die Eröffnung folgte der zweite Lockdown, der auch für die Museen bis in den Juni dieses Jahres hinein eine mehrmonatige Schließzeit mit sich brachte. Darum also haben Interessierte erst jetzt so richtig Gelegenheit, sich in der Sonderschau umzusehen. Und es lohnt sich überaus, das sei vorab bemerkt an dieser Stelle. Als Glücksfall kommt hinzu, dass das Mauritianum dank finanzieller Unterstützung durch den Freistaat im Zusammenhang mit dieser Exposition jetzt ein attraktives Sommerangebot für alle Ferienkinder anbieten kann.
„Wenn Wasser knapp wird – veränderte Lebenswelten im Ganges-Delta“, so ist besagte Sonderausstellung überschrieben. Sie fasst auf anschauliche Weise Erfahrungsberichte, Zeichnungen und Objekte aus Bangladesch zusammen, die im Zuge dreier ethnologischer Forschungsreisen der Naturforschenden Gesellschaft Altenburg zusammengetragen wurden. Eine dieser Erkundungen fand in Kooperation mit der tschechischen Palacký-Universität Olomouc (Olmütz) statt, an der einer der Kuratoren der Schau – Olaf Günther – über sechs Jahre hinweg als Professor forschte und lehrte.
Die Ausstellung erzählt vom Entstehen und Vergehen von Land und Leben – und sie schlägt den Bogen auch zu uns. Indem sie der Frage nachgeht, was das Geschehen in jenem asiatischen Land mit Deutschland zu tun hat, nicht nur in Fragen des Klimawandels und seiner Auswirkungen, die hierzulande gerade in diesem turbulenten Sommer wohl jedem noch klarer als sonst vor Augen stehen dürften.
In Europa wird Bangladesch – neben den Malediven und der Arktis – allgemein als die am stärksten betroffene Region des Klimawandels charakterisiert. Im Land selbst ist man sich seit mehr als einem Jahrzehnt der Gefahr bewusst und hat hierfür bereits vor 20 Jahren ein eigenes Ministerium eingerichtet. Die Ausstellung nimmt den Besucher mit zu den Orten des Klimawandels, skizziert Lebenswelten im wasserreichen Ganges-Delta, in den Waldregionen und auf den Teebergen des Nordens, in saisonalen Überschwemmungsgebieten im Inneren des Landes und in Gegenden, die als Dürreregionen gelten.
Zweimal waren der Ethnologe Olaf Günther und sein Sohn Claudius in jüngster Vergangenheit zu Feldforschungen in Bangladesh unterwegs, 2019 und 2020. Sie begaben sich gemeinsam auf die Spuren von Wassermacht und Landverlust und spürten der Rolle des Wassers im vielleicht wasserreichsten Land der Erde nach.
80 Prozent der Fläche des Ganges-Delta, das um die 100 000 Quadratkilometer bemisst, liegen in Bangladesch. Dieses gewaltige Delta umfasst jedoch nur eines der drei großen Flusssysteme, die sich in Bangladesch in den Indischen Ozean ergießen. Hinzu kommen mit dem Brahmaputra und dem Meghna zwei weitere. Alle drei führen in ihren Wassermassen Sand, Lehm, Geröll und Gestein in enormen Größenordnungen mit sich, die sich über Jahrtausende in der Bucht von Bengalen abgelagert haben und stetig neu hinzukommen. Damit wurde und wird ein fruchtbarer Lebensraum geschaffen, der heute eine der am dichtesten besiedelten Landflächen der Welt ist: Das Land der Bengalen oder Bangladesch. Doch dieses Land verändert sich durch das niemals still stehende Werk des Wassers stetig. Inseln verschwinden, neue entstehen. „Dieses Kommen und Gehen der Sandbänke und Inseln spiegelt sich auch in den Geschichten der Menschen wider“, erzählt Olaf Günther aus seinen Erfahrungen. „Wenn man sie fragt, wie oft sie schon von ihrem Land wegziehen mussten, sind Antworten wie sieben oder acht Mal der Durchschnitt, je nach Alter des Gesprächspartners.“ Doch diese Berichte von einem sich stetig neu orientierenden Leben seien vor Ort selten geknüpft an Katastrophengeschichten, sondern gehören eher zur Normalität eines Lebens auf den Inseln.
Olaf und Claudius Günther waren im scharfen Kontrast hierzu aber auch in Regionen unterwegs, in denen es einen solchen Überfluss an Nass nicht gibt. So im Norden des Landes, in der intensive Landwirtschaft zu Wassermangel und ausgetrockneten Flüssen führt – sowie in einer Gegend, in der halbjährlich Wassermassen Ebenen füllen und grüne Felder durch Binnenseen überschwemmen.
Von all diesen Beispielen erzählt die Sonderausstellung im Naturkundemuseum an der Parkstraße höchst anschaulich. Eine Reihe von Exponaten haben die beiden Reisenden von ihren Forschungsausflügen mitgebracht. So bewegen sich im Durchzug der geöffneten Fenster verschiedenen geflochtene Fischreusen, die im Raum wie ein überdimensionales Mobile angeordnet sind – und ziehen den Besucher fast magisch in die Exposition hinein. In dieser begegnet der Gast vielfältigem weiteren ethnologischem Sammelmaterial, vorwiegend Alltagsgegenständen, aber auch Produkten aus der Region, wie unterschiedlichsten Reisarten, die in Bangladesch angebaut werden, deren Vielfalt aber bedroht ist.
Claudius Günther hat einen Holzweg gestaltet, der jede der besuchten Regionen farbig und symptomatisch für den jeweiligen Landstrich darstellt – und der als Wegeführung gleichzeitig garantiert, dass sich die Ausstellungsbesucher pandemiekonform in einer Art Einbahnstraßenprinzip durch die Sonderschau begeben können.
Rasch wird klar, dass die beiden Ausstellungsgestalter ihre Erfahrungsberichte aus Bangladesch in mehreren Erzählsträngen präsentieren: In der Mitte des Rondells ebenso wie an den unmittelbaren Außenrändern, auf dem hier schon erwähnten Fußboden-Holzweg, in Vitrinen – und vor allem auch an den Wänden. Die zieren vielerlei Alltagsgeschichten, die im Rahmen der Feldforschungen notiert wurden, ergänzt und bebildert – und damit erst zu greifbarem Leben erweckt – durch die wunderbaren Zeichnungen von Claudius Günther, der mit seinen Malkünsten in Bann zu ziehen versteht. Hier offenbart der 21-Jährige nicht nur ein unbestreitbar großes Talent, sondern auch ein tiefes Einfühlungsvermögen in Geschichten, Situationen, Landschaften. Und vor allem, so berichtet der furiose Zeichner am Rande, musste er auf jeder der Stationen, die er gemeinsam mit seinem Vater besuchte, ungeheuer schnell sein.
Während der Ethnologe mit den Bewohnern vor Ort sprach und deren Lebensumstände erkundete, fertigte Claudius Günther die Zeichnungen dessen an, was er vor sich sah. Und das in Windeseile. Fünf bis zehn Minuten brauchte er für ein Bild in einem gemischten Stil, der mit „Urban Sketching“ umrissen wird – in dem der junge Mann mit Skizzenstift, Aquarellpinsel und einem Fineliner für die gewünschten Kontraste ans Werk geht. „Ich musste einfach schnell sein. Denn sobald ich angefangen habe zu zeichnen, kamen immer mehr Kinder und Leute von dort, die neugierig waren und mir schließlich die Sicht versperrten.“
Was ihm in dieser Eile gelang, erweist sich als eine Überraschung der besonderen Art und ist für sich genommen bereits sehenswert, löst man seine Arbeiten gedanklich-theoretisch mal für einen Augenblick aus dieser ethnologischen Ausstellung heraus. Die Auswahl seiner Zeichnungen jedenfalls dürften wohl auch in einer Kunstausstellung Bestand haben und überzeugen.
Im Grunde habe er sich das alles selbst angeeignet und beigebracht, sagt der Abiturient, auch wenn er im Gymnasium einen Kunst-Leistungskurs belegt hatte, der sicher so manches an Techniken vermittelte. Zugute kamen ihm gewiss auch weitere Studienerfahrungen, die er im Frühjahr 2020 für drei Monate an der Kunsthochschule in Dhaka (Bangladesch) als Gasthörer sammeln konnte. Diese wertvolle Chance ergreifen zu können, das ermöglichte die Tatsache, dass Claudius Günther für seine Forschungsstudien in Bangladesch ein Reisestipendium von der Naturforschenden Gesellschaft Altenburg erhalten hatte.
Dieses unterstützte die wohl seltene Chance, dass Vater und Sohn gemeinsam auf Forschungsreisen gehen konnten – in dieser Konstellation Techniken der Dokumentation aufgreifend, wie man sie beispielsweise aus dem Leben Alexander von Humboldts kennt. Bevor Expeditionen schnell und einfach per Fotografie dokumentiert werden konnten, hatten die großen Expeditionen des 19. Jahrhunderts entweder begabte Zeichner als Expeditionsführer dabei, wie eben Alexander von Humboldt, oder sie engagierten extra einen Zeichner, der die Touren dokumentarisch begleitete.
Ob jene hier erwähnten zeichnerischen Talente der besonderen Art Claudius Günther später auch mal beruflich in diese Richtung führen werden, ob er womöglich ein Kunststudium aufnehmen möchte, das lässt sich der junge Mann derzeit noch offen. „Auf jeden Fall etwas Kreatives“, antwortet er auf eine entsprechende Frage. Zunächst aber möchte er noch einmal mit seinem Vater auf eine weitere Forschungsreise gehen, diesmal an den Aralsee.
Ganz offiziell über die Schulter schauen darf man dem Zeichner Claudius Günther bereits ab der kommenden Woche, wenn der gemeinsam mit seinem Vater zu mehrfachen Terminen zweier verschiedener Ferien-Veranstaltungsfolgen für Kinder und Jugendliche ins Mauritianum einlädt. Und mehr noch: Nicht nur über die Schulter schauen ist erlaubt, man darf vor allem selbst kreativ werden. „Ich packe meinen Koffer – eine Reise zu den Hotsports des Klimawandels“, so heißt die eine Offerte für Mädchen und Jungen im Grundschulalter. Das andere Angebot ist ein Workshop „Urban Sketching – zeichnerisch die Welt entdecken“ für junge Leute ab einem Alter von zwölf Jahren, bei dem ein jeder selbst einmal ausprobieren kann, wie Claudius Günther seine Kunstwerke schafft. Auf einem Spaziergang durch den Schlosspark können eigene Motive aufgespürt und zeichnerisch festgehalten werden.
Und während sich die Jüngsten mit Sicherheit bei den Kursen bestens aufgehoben und beschäftigt wissen, könnten die Eltern oder Großeltern sich derweil im Naturkundemuseum an der Parkstraße in besagter Sonderausstellung unter dem Titel „Wenn Wasser knapp wird – veränderte Lebenswelten im Ganges-Delta“ umsehen – oder den Besuch in den kommenden Wochen für einen Ferienausflug oder im Rahmen eines Sonntagsspaziergangs einplanen. Der Eintritt ins Naturkundemuseum Mauritianum ist frei. Ralf Miehle
Naturkundemuseum Mauritianum, Parkstraße 1 in Altenburg, geöffnet dienstags bis freitags von 13 bis 17 Uhr, an den Wochenenden von 10 bis 17 Uhr.