„Wollen Sie ihren Mann noch einmal streicheln?“, fragt Ryo Takeda die Witwe am Grab ihres verstorbenen Mannes. Sie nickt, berührt noch ein letztes Mal die Urne, in der die Asche ihres Partners aufbewahrt wird. Für eine Beerdigung ist das eher ungewöhnlich. Doch wenn Ryo Takeda eine Beerdigung als Trauerredner begleitet, ermöglicht er mehr als das, was auf „08/15Bestattungen” üblich ist.
Natürlich können Angehörige und Freunde des Verstorbenen klassisch Blumen ins Grab werfen, sagt er. Der Trauerredner hat mit Hinterbliebenen aber auch schon Erdbeeren gegessen, Kekse ins Grab gestreut oder mit Eierlikör angestoßen – und damit eine ganz persönliche Verbindung zu dem Verstorbenen hergestellt. „Ich möchte den Menschen die Angst davor nehmen, was andere denken könnten, wenn sie es anders machen.”
Mündigkeit der Trauernden stärken
Takeda findet: „Es sollte ein Umdenken beginnen.“ Manch einer will den verstorbenen Vater selbst waschen oder die Urne der Mutter selbst zum Grab tragen. All dies sei möglich. „Es geht um die Mündigkeit der Menschen, die dort trauern.” Ihnen versucht der Redner ein Stück Kontrolle über die Bestattung zurückzugeben. Der Tod eines geliebten Menschen sei dann allerdings mit einer anderen Frage verbunden: Was tut den Hinterbliebenen gut?
Genau diese Frage rückt Ryo Takeda in den Mittelpunkt, erzählt er im Gespräch. Der 41-jährige Wahlleipziger ist eigentlich Radiosprecher, hat eine Zeit lang Traureden auf Hochzeiten gehalten und sich nun auf Trauerreden fokussiert. Er erzählt mit einer tiefen, sonoren Stimme vom Umgang mit dem Tod, von Gesprächen mit Angehörigen und seiner Aufgabe, dem Verstorbenen einen würdevollen Abschied zu bereiten.
Gespräche über das Leben
Ob er für eine Hochzeit oder eine Trauerfeier eine Rede vorbereitet – „das ist kein großer Unterschied”. Beides seien wichtige Feste, es gebe starke Emotionen, in einem Trauergespräch werde auch viel gelacht. „In einer Trauerrede wird hauptsächlich über das Leben gesprochen”, sagt Ryo Takeda. Auch deshalb schreibt er die Lebensgeschichte des Verstorbenen im Präsenz und spricht diesen direkt an.

Die Frage nach dem letzten Willen des Toten bleibt meist unbeantwortet, weiß Takeda. Die wenigsten schreiben auf, wie sie sich ihre Beerdigung wünschen, obwohl das den Hinterbliebenen enorm helfen würde. Einmal traf er auf einen Mann, der seine Grabrede bereits selbst verfasst und eigene Musik dazu komponiert hatte. „Das war krass”, sagt Takeda rückblickend – und eine Ausnahme.
Gäste wie ein Hirte betreuen
Wenn er eine Trauerrede schreibt, versucht Takeda „die Sprache der Menschen zu sprechen, die ich treffe”. Es müsse sich vom Ton für die Angehörigen passend anfühlen, egal, ob sie aus der Platte in Grünau kommen oder im Waldstraßenviertel leben, betont er. Auf der Trauerfeier geht er auf die Gäste ein, versucht zu interagieren. „Man muss sie wie ein Hirte betreuen.” Seinen Text schickt er den Hinterbliebenen vorab zu. Für 600 Euro sollte das drin sein, findet er. Soviel kostet es, wenn Ryo Takeda die Trauerrede verfasst. Auch hier geht es um Kontrolle für die Angehörigen.
„Ich versuche nicht da reinzudrücken, wo es schon weh tut.“
Der Redner sagt, er betreut auch die Bestattung einer 95-jährigen Rentnerin. Aber er mag auch die Herausforderung, die schwere Fälle mit sich bringen. Wie schreibt man eine gute Trauerrede, wenn die Familie zerstritten ist, bei einem Suizid oder für einen Menschen, der sehr jung verstorben ist? Der 41-Jährige sagt: „Man muss aufpassen, für wen man formuliert.” Schwere Themen wie Alkoholismus deutet er nur an – und verständigt sich vorab mit der Familie, wie direkt er sein darf. „Ich versuche nicht da reinzudrücken, wo es schon weh tut.”
Takeda muss sich in kurzer Zeit einen Überblick über den Charakter des Verstorbenen verschaffen. „Wonach schmeckt und riecht deine Kindheit?”, ist deshalb eine seiner Standardfragen. Dazu fällt den Angehörigen meistens etwas ein. „Nach dem Pfefferminztee von Mutti”, lautete mal eine der Antworten. „Das Schönste ist, wenn die Familie ins Plappern kommt”, sagt er. Dann könne er die Gespräche der Hinterbliebenen vertonen, aus dem Skript etwas Lebendiges machen. „Meine Trauerreden sind Songs über Menschen.”
Gute Erinnerungen rüberbringen
Der Redner will das Leben des Verstorbenen dabei möglichst ehrlich rüberbringen. „Ich versuche, die kleinen Knöpfe zu drücken, die die guten Erinnerungen wieder hoch -holen.” Einmal ließ er auf einer Trauerfeier unter dem Grab Mikado-Stäbe fallen, weil die Tochter das oft mit ihrem verstorbenen Vater gespielt hatte. Wenn Takeda das Zepter übernimmt, gibt es solche Überraschungen.
Beim Schreiben kann der Redner auf seine Erfahrungen als Musiker zurückgreifen. Er versuchte eine Zeit lang als Sänger Fuß zu fassen – letztlich ohne Erfolg. Das Kapitel hat er heute abgehakt, obwohl es zwischenzeitlich ganz gut lief.
Ein Rückblick: Takeda wächst in Wiesbaden in einem Künstlerhaushalt auf. Seine Mutter ist die bekannte Pianistin Makiko Takeda, die 1968 aus Japan nach Deutschland übersiedelt und den Schauspieler Alfred Herms heiratet, Ryo Takedas Vater. „Es ging bei uns zu Hause immer um Musik, Kunst und Literatur”, blickt er zurück. Der Sohn lernt Cello zu spielen. Mit 13 trägt er weite Hosen, kurze Haare und fängt er an zu rappen. Nach der Schule absolviert Takeda 2002 seinen Zivildienst in einer Sozialstation in Hamburg. Er geht mit älteren Damen einkaufen und taucht abends in die Rapper-Szene der Stadt ein.
Weder Musiker noch Schauspieler
Dann lebt er mal ein halbes Jahr in Japan, versucht die Wurzeln seiner Familie mütterlicherseits zu ergründen. Nach seiner Rückkehr ist klar: Anders als seine Eltern will er weder Musiker noch Schauspieler werden. 2006 beginnt er in Stuttgart den Studiengang Sprechkunst. „Ich war sehr schnell todunglücklich.” Das Studium ist nicht das, was er erwartet hat. „Es war zu abgehoben.” Also bricht er das Ganze ab, geht zurück nach Hamburg und landet über Freunde schließlich in Erfurt. Der Osten der Republik ist ihm – bis auf einen Familienurlaub auf Rügen – bislang fremd.
In der Thüringer Landeshauptstadt wird Takeda 2009 Teil des „Zughafen“, einem Künstlernetzwerk, zu dem auch der Musiker „Clueso” gehört. Er geht mit dem Sänger gemeinsam auf Tour, kocht für die Crew – und arbeitet er an seinem Solodebüt. Was ihm an den Erfurtern gefällt: „Egal, wie dick dein Schiff ist, du kannst hier andocken.” Die Zeit in Erfurt hätte der Beginn seiner eigenen Musikkarriere sein können.
Er sagt: „Clueso war ein Förderer von mir.” Ryo Takeda bezeichnet sich selbst als Trittbrettfahrer des Künstlers. Zusammen mit dem „Zughafen“-Mitbegründer Norman Sinn schreibt er das Lied „Planlos”, mit dem beide im Oktober 2010 am Bundesvision Song Contest für Thüringen teilnehmen. „Ich saß bei Stefan Raab auf dem Sofa”, erinnert er sich. Ein Hit wird der Song nicht, die Musikkarriere scheitert.
Der Sänger wagt 2015 einen Neuanfang und zieht mit seiner damaligen Frau nach Leipzig. Er fasst Fuß als Radiosprecher beim MDR. Der Brotjob hält ihn bis heute über Wasser. Hinzukommen Moderationen und die Freien Trauungen. Takedas Ehe geht in die Brüche, die beiden sieben und drei Jahre alten Kinder leben wechselweise bei ihm und seiner Ex-Frau.
„Ich lebe mein Leben anders.”
Dadurch, dass er häufiger mit dem Tod konfrontiert ist als die meisten anderen Menschen, sagt Takeda: „Ich lebe mein Leben anders.” Er freue sich über kleine Dinge, etwa mit den Kindern ein Eis essen zu gehen. Mit seiner Tochter geht er vor der Kita immer frühstücken. Ein Donut für sie, einen Kaffee für ihn. „Ich erlaube mir ein Leben, in dem ich mir diese Inseln schaffe.” Einen festen Tagesablauf vermisst er nicht. „Ich bin das Gegenteil von Struktur”, sagt der Sprecher. „Ein Nine-to-five Job wäre mein Tod.”
Der Wechsel von den Traureden zu den Trauerreden sei ihm ebenfalls leicht gefallen. Viele Hochzeiten seien eher eine große Show. Takeda spricht von einer Art „Wettrüsten”, wer die teuerste Feier ausrichtet. „Das kleine leise Danke der Witwe am Grab schwingt in meinem Leben viel mehr nach als eine pompöse Hochzeitsfeier.” Er befürchtet, dass die KI irgendwann seinen Job im Radio ersetzen könnte. Für Trauerreden aber wird es wohl noch eine Weile einen Menschen brauchen, der sie hält, glaubt er. „Keiner wird dafür Alexa auf den Grabstein stellen.” Vielleicht schreibt er mal ein Buch – über das Leben und den Tod.
Seinen Kindern hat Ryo Takeda eine kleine Goldmünze gekauft. Mit der sollen sie irgendwann einmal einen Musiker bezahlen, der auf seiner Beerdigung spielt – vielleicht etwas Romantisches von Debussy oder Chopin. Gina Apitz
Weitere Infos unter: www.trauerredner-takeda.de