
Streit – was für ein hartes Wort! Dabei sind Auseinandersetzungen, Meinungsverschiedenheiten, Diskussionen und ja, manchmal auch Streit eine alltägliche Sache – dies weiß Hans-Jörg Scherer ganz genau. Denn er beschäftigt sind mit eben diesen Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen, mit Streit und zwar zwischen Grundschulkindern: Er ist einer der Schulmediatoren des Landesverbands Sachsen vom Verein Seniorpartner in School, die in Leipzig tätig sind.
Das gewählte sprachliche Bild ist wunderschön, weil es die Dinge so auf den Punkt bringt: Zwei Kinder in einem Raum, eines steht am Fenster und hat dessen Griff fest in der Hand; das andere ist am anderen Ende an der Tür und hält sich dort ebenso gut fest. Der Raum erscheint groß, die Distanz kaum zu überbrücken, die Widerstände sind groß. Doch dann, ganz sacht und langsam lassen die beiden Kinder die Griffe los und bewegen sich aufeinander zu – um sich schließlich irgendwann in der Mitte des Raumes zu treffen.
Ganz ähnlich funktioniert es, wenn es gilt, in einem Streit zwischen zwei Gundschul-Kindern zu vermitteln, sagt Hans-Jörg Scherer und zwar aus eigener, in den vergangenen Jahren gemachter Erfahrung heraus.
„Jeder Mensch hat eine ganz eigene Meinung“
„Streit ist ja nicht per se etwas Schlechtes“, überlegt er und ergänzt: „Jeder Mensch hat nun einmal zu einer Situation eine ganz eigene Meinung.“ Und auch da schwingt Erfahrung mit, die über seine ehrenamtliche Tätigkeit hinausreicht: In seinem Berufsleben etwa in der Personalführung und -entwicklung hat er oft genug erlebt, dass die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Dinge auch bei erwachsenen Menschen eher die Regel als die Ausnahme sind.

„Dann klappt sehr oft die Abstraktion nicht richtig: In solchen Situationen geht es eben nicht um die Personen an sich, sondern um die unterschiedlichen Meinungen“, was sich wiederum bei Grundschul-Kindern manchmal durchaus drastischer im Verhalten äußern kann. Mit Beleidigungen beispielsweise und auch mit körperlichen Attacken.
Wecken von Verständnis
Dabei ist die erwähnte Abstraktion so wichtig. Ebenso wie das Wecken von Verständnis – denn auch hier hat Hans-Jörg Scherer ein schönes Bild: Da ist ein Kind, das so gern in einer erfolgreichen Fußball-Mannschaft mitspielen möchte. Und da ist der Kapitän dieser Truppe, der gern weiter diese Erfolgserlebnisse haben möchte. Zwei Sichtweisen, die für sich genommen absolut nachvollziehbar sind. Und dennoch für Streit sorgen können.
„Kinder bekommen schnell mit, wenn man bereit ist zuzuhören. Dann lassen sich sich auch darauf ein.“
„Klar, da geht es um die klassische Konfliktbewältigung“, sagt der Streitschlichter und verweist auf einen ganz wichtigen Punkt: „Wobei es oft entscheidend ist herauszufinden, wo denn der Hase nun wirklich im Pfeffer liegt – um welche nicht erfüllten Bedürfnisse und die damit verbundenen Gefühle es geht. Ganz oft bei angeknacksten Freundschaften um Gefühle von Traurigkeit, Einsamkeit, Wut. Um das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach Gemeinschaft. Und in diesen Situationen geht es darum, den Kindern in aller erster Linie mit Zuneigung, Aufmerksamkeit und vor allem mit Offenheit zu begegnen.“
Der Bedarf an Aufmerksamkeit ist da
Der Bedarf an dieser Aufmerksamkeit, Zuneigung und Offenheit ist auf jeden Fall da – diese Erfahrung hat er gerade auch als Leipziger Beisitzer vom sächsischen SiS-Landesverband gesammelt. Wenn er im Team mit seinem zweiten Schulmediator an „seiner“ Grundschule unterwegs ist, wird er längst erkannt, angesprochen und wahrgenommen – auch wenn sie nur als stille Beobachter auf dem Schulhof stehen.
Klingt einfach, ist aber inzwischen zu einer großen Aufgabe geworden: „Das helfende Einzelgespräch hat inzwischen ganz enorm an Bedeutung gewonnen in unserer regelmäßigen Arbeit: Dabei können Kinder zu uns kommen, wenn sie Probleme haben.“ Und auch dann geht es wieder um Zuneigung, Aufmerksamkeit, Offenheit …
Seit 2020 als Schulmediator im Einsatz
Dies ist schon auch eine Belastung – dies hat Hans-Jörg Scherer in den vergangenen Jahren gelernt. 2020 fasste er den Entschluss, als Schulmediator in Leipzig aktiv zu werden. Inzwischen ist er in seiner vierten „Saison“ (zunächst wurde die ehrenamtliche Schulmediation ja von der Corona-Pandemie im wahrsten Sinne des Wortes ausgebremst) und er kennt die Herausforderungen dieser Arbeit.
Die Kraft, die man doch immer wieder reinstecken muss. Manchmal, sagt er mit einem leisen Lächeln, müsse er sich doch ein wenig überwinden vor dem Aufbruch an „seine“ Grundschule, aber „sobald man dann vor Oret ist und die vielen Reaktionen der Kinder bekommt, ist das schnell vergessen“.
Gemeinsam mit ihm sind 62 weitere Menschen an sächsischen Schulen unterwegs – in Leipzig, aber auch in Dresden, Chemnitz, Riesa oder Bautzen. „Aber erst einmal bekommen Interessierte eine sehr fundierte Ausbildung“, erzählt Hans-Jörg Scherer davon, wie auch er fit gemacht wurde in Sachen „gewaltfreier Kommunikation“ (denn genau um diese geht es). Ja, darauf müsse man sich dann schon einlassen, auf das Lernen und darauf, Kindern unbedingt auf Augenhöhe zu begegnen. Auf den Grundsatz der Neutralität und auf diesen einen wichtigen Satz: „Ich muss nicht recht haben!“
Eigene Lebenserfahrungen mitgebracht
Was Hans-Jörg Scherer wiederum als eigene Erfahrung aus seinem Leben mitgebracht hat: „Die Basis ist eine wohlwollende Grundeinstellung mit dem Respekt für den anderen Menschen. Und diese Frage: Kann ich auch mal eine andere Sicht auf die Dinge zulassen? Und wenn man dies einmal gelernt hat und festgestellt hat, dass diese andere Sicht auf die Dinge für einen selbst eine Hilfe war, warum sollte man dann nicht auch anderen Menschen helfen?“
Genau da findet sich auch die tiefere Motivation, warum Hans-Jörg Scherer zum Streitschlichter wurde. Manchmal, überlegt er, sei es in einer Auseinandersetzung überhaupt nicht so wichtig, eine echte Lösung zu finden.
Vielmehr gehe es einfach nur um den Prozess. Um das Erreichen einer emotionalen Ebene bei den Kindern. Um das Wecken von Empathie. Um die Bedürfnisse des jeweils anderen Kindes – aber auch um die Idee der eigenen Verantwortung. „Das ist mein Angebot an die Kinder: Du kannst natürlich entscheiden, was du machst – aber du musst eben auch die Verantwortung dafür tragen.“
Kleine Sternstunden ermöglichen
Vielleicht – so die Hoffnung von Hans-Jörg Scherer – könne man da auch etwas hinterlassen für ein ganzes Leben. So, wie er selbst mit dem Einlassen auf die andere Sicht der Dinge etwas mitgenommen hat bis zum heutigen Tag. „Klar – es ist eine große Herausforderung, Grundschulkinder ins Gefühl zu bringen. Aber es geht genau um diesen Augenblick: Wenn dann Kinder ihre kleine, aber prägende Sternstunde erleben können, dann hat es sich gelohnt.“
Denn wie schon einmal gesagt – es geht nicht immer nur um den Streit. Sondern eben immer öfter um Traurigkeit, um das Gefühl des Verschmähtwerdens und der Minderwertigkeit. Erlebt in vielen der erwähnten Einzelgesprächen. Die Grundschulkinder stärken: Eine Wortwendung, die man oft hört. Bei Hans-Jörg Scherer wird sie konkret.
„Du glaubst gar nicht, wie viele Möglichkeiten du hast. Und wie viele Potenziale in dir stecken.“
Wenn er mit liebevollen Nachdruck die Erkenntnis vermittelt: „Du glaubst gar nicht, wie viele Möglichkeiten du hast. Und wie viele Potenziale in dir stecken.“ Wobei es natürlich entscheidend ist, dass er als Schulmediator diese Potenziale auch erkennt – wobei man dann wieder bei der Zuneigung, Aufmerksamkeit und Offenheit ist. Nein, nicht das selber Reden ist der Punkt beim Streitschlichten und beim Einzelgespräch – das aufmerksame und offene Zuhören ist es.
Die Idee kommt gut an bei den KIndern
Das wirklich Erstaunliche dabei: Diese Idee kommt an bei den Kindern. Weil sich die Schulmediatoren in den Klassen auch vorstellen und auf dem Schulhof präsent sind, kennen die Kinder die Gesichter. „Die bekommen dann auch schnell mit, wenn man bereit ist zuzuhören. Und eben nicht zu bewerten. Dann lassen sich die Kinder auch darauf ein“, erzählt Hans-Jörg-Scherer: „Wir haben es nur sehr selten erlebt, dass dies mal nicht funktioniert hat.“
Ach ja – gern würde er ein paar neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter an seiner Seite begrüßen. Der Bedarf ist da, wie schon gesagt: Meinungsverschiedenheiten und Streit, aber auch stille Probleme sind steter Begleiter gerade auch kindlichen Alltag. Und die Arbeit an „seiner“ Grundschule ein Puzzlestein der Hilfe und Unterstützung. „Wir sind auf gar keinen Fall eine Konkurrenz zur Schulsozialarbeit“, unterstreicht Hans-Jörg Scherer bestimmt. Und dann ergänzt er: „Ich ziehe längst auch meinen Hut vor den Grundschullehrerinnen und Grundschullehrern.“
„Erstaunlich, wie gut sich kinder ausdrücken können“
Denn am Ende – daran lässt er noch einmal keinen Zweifel – geht es um die Kinder. Darum, ihnen zu helfen in schwierigen Situationen des Lebens. „Kinder sind schon eine sehr dankbare Zielgruppe“, überlegt er. Sehr authentisch in ihrer Art, manchmal entwaffnend direkt und manchmal heftig ehrlich – bis ins Beleidigende hinein. Dann darf man manchmal mit liebevollem Nachdruck agieren, weiß er und ergänzt: „Aber wo das Kind letztlich hin will, muss das Kind bestimmen.“
Nach einer Pause ergänzt er nachdenklich: „Es ist schon erstaunlich, wie gut sich Kinder ausdrücken können. Wenn es zum Beispiel um Traurigkeit geht oder um Wut.“ Zuhören lohne sich da immer. Erst recht, wenn dann das entscheidende Feedback kommt. Manchmal, sagt Hans-Jörg Scherer, höre man es von Lehrerinnen und Lehrern, „das ein Kind wieder dabei ist in der Klasse“. Was für ein Moment! Jens Wagner