Zu einem Neuanfang gehört ein neuer Name. Und warum nicht der eigene, nur rückwärts? Unter dem Titel „Lles” firmiert Christoph Sell deshalb seit Neuestem. Auf Englisch bedeutet das Wort „less” „weniger”. Genau das passe zu ihm, sagt der 33-Jährige. Viele Jahre gehörte Christoph Sell zur Mecklenburger Punkband „Feine Sahne Fischfilet”.
Vor zwei Jahren trennte sich der Gitarrist von der Gruppe und geht nun eigene Wege. Im November hat er sein erstes Solo-Album veröffentlicht – ein schräger Sound kombiniert mit seinem etwas exzentrischen Gesang. Ein klarer Stilbruch zum Punk, ein klarer Beginn von etwas Neuem.
Die Trennung hat weh getan
„Ich habe jetzt neue Lebensumstände, mache ganz viel selbst, bin auf mich allein gestellt”, resümiert Christoph Sell die letzten beiden Jahre. Der Alltag mit der Band war bisher alles, was er kannte. „Die Band war mein Leben. Ich hab da alles rein gegeben, auch mein Songwriting”, sagt Sell. Der Hit „Komplett im Arsch” stammte aus seiner Feder. Mit 18 Jahren dichtete er das Lied, verarbeitete darin seinen Liebeskummer. Zwei Jahre nach dem Ausstieg aus „Feine Sahne” sagt der gebürtige Mecklenburger offen: „Die Trennung hat weh getan.”
Dass er die Gruppe verlassen hat, habe sein Leben auf den Kopf gestellt. Auch deshalb der neue umgedrehte Name. Der Titel des Albums „Lost Times” bezieht sich auf die verlorene Zeit, die hinter ihm liegt. Einige Songs thematisieren die Pandemie, handeln von Freunden, die zu dieser Zeit im Krankenhaus gearbeitet haben und als Alltagshelden gefeiert wurden. „Die Pandemie hat die ganze Welt psychisch mitgenommen”, sagt Sell. „Alle meine Freunde machen Therapie” heißt ein Titel des Albums.
Gefühl der Orientierungslosigkeit
Auch das Gefühl der Orientierungslosigkeit und das einer ungewissen Zukunft nach der Bandtrennung spiegelt sich in seinem Album wider. Christoph Sell sagt, er wolle Dinge nachholen, Neues entdecken, was er vorher nicht kannte. Mit 18 Jahren stieg Sell in die Gruppe ein, war zwölf Jahre lang mit ihr auf Tour. Er sagt, er sei stolz darauf, was er mit der Band alles erreicht hat. Doch das große „aber“ steht im Raum. Er hat erst jetzt richtig erkannt, was ihm in der Gruppe fehlte. „Man hat dadurch ganz viel von sich selber gar nicht richtig entdeckt”, sagt Sell. In einer Band spielen, heißt eben auch, sich einordnen in ein Kollektiv, die eigenen Wünsche zurückstellen. Das „Wir” dominiert.
„Es ist ein steiniger Weg, den ich da gewählt habe.”
Jetzt steht für den Musiker das „Ich” im Mittelpunkt. Klar, sagt er, ein Soloprojekt sei ein Risiko. Gleichzeitig eröffnet sich ihm nun eine neue Freiheit. „Das Album ist eine Reise durch meine letzten Jahre”, sagt Sell. Alle Lieder sind sehr persönlich. Es finden sich Gedanken zum Thema Rassismus in Deutschland, mentale Gesundheit und zum „Sich- Verloren-Fühlen”.
Schreiben hat eine therapeutische Komponente
„Es ist schon ein ganz schöner Rucksack, den ich auf dem Album verarbeite”, sagt der Musiker. All die Schwierigkeiten der vergangenen Jahre sind hier versammelt. Das Schreiben und Komponieren habe für ihn immer auch eine therapeutische Komponente. „Die letzte Zeit war schwer für mich”, sagt Sell. „Ich musste mich allein neu aufstellen.” Bisher habe er sein Soloprojekt nicht bereut. Dennoch: „Es ist ein steiniger Weg, den ich da gewählt habe.”
Die meisten Songs des Albums sind melancholisch, aber „es ist immer auch Hoffnung da”. Seine Lieder sollen dem Zuhörer Mut machen. Und er ist sich sicher: „Die Musik, die ich danach mache, wird viel befreiter sein.”
Fürs Musikvideo Tanzen gelernt
Etwas völlig Neues probierte Sell auch für das Musikvideo zu seinem Song „Clash” aus. Darauf ist er mit der Tänzerin Risa Kojima zu sehen – in einem Duett aus zeitgenössischem Tanz. Solch ein Tanzvideo zu drehen, „war erst eine Schnapsidee”, sagt Sell. Er nahm dafür Unterricht bei einer professionellen Tänzerin und lernte dadurch „eine krasse neue Kunstwelt” kennen.
Beim Dreh in Berlin mit Risa Kojima entstand vieles spontan. Die Tänzerin und der Gitarrist performten das erste Mal gemeinsam vor der Kamera. „Es war ein wilder Tag.” Für Sell war das Ganze eine völlig neue Erfahrung. „Es ist ein bisschen wie nackt zu sein.” Er merkte: Das Tanzen als Kunstform gefällt ihm. Möglich, dass es ein Element ist, das auch künftig in seinen Musikvideos auftaucht.
Christoph Sell ist gebürtiger Dresdner
Christoph Sell stammt aus keiner besonders musikalischen Familie. Seine Mutter ist studierte Mathematikerin. Sein Bruder und er wurden beide in Dresden geboren. Anfang der Neunzigerjahre zog die Familie in die Nähe von Greifswald. Sell machte nach dem Abitur seinen Zivildienst und stieg mit 18 in die „Feine-Sahne-Band“ ein. Dass die Punkrocker bald sehr erfolgreich sein würden, wusste damals keiner. „Die Musik war ein Ausreißen aus dem Alltag”, erinnert sich der Gitarrist. „Wir haben nicht überlegt, wir haben einfach gemacht.” Sell setzte voll auf die Karriere mit der Band. „Ich hab keine Ausbildung gemacht, ich hab mein Studium abgebrochen. Ich kannte nur dieses Musikerleben.”
Drei Semester studierte er Geschichte und Politikwissenschaften. Doch irgendwann schaffte er es nicht mehr, die Hausarbeiten rechtzeitig zu schreiben. Wozu ein Studium abschließen? Der Erfolg der Band sei „ein Sechser im Lotto” gewesen, alle konnten gut von der Musik leben. Heute klingt an, dass er diese Entscheidung ein Stück weit bereut.
„Jetzt mit Anfang 30 denkt man viel mehr nach.” Und nun eben getrennte Wege. Sell vergleicht den Abschied von der Band mit einer langen Ehe, die auseinander gegangen ist. Die Gründe seien vielfältig gewesen. Er nennt es „einen Blumenstrauß an Problemen” und betont: „Wir haben uns menschlich auseinandergelebt.”
Seine Familie unterstützt ihn, auch in dieser etwas „unorganisierten Lebensphase”. Darüber ist der Musiker sehr froh und auch darüber, dass nun ein neuer Lebensabschnitt begonnen hat. Seit 2020 wohnt Sell in seiner Wahlheimat Leipzig. Vorher lebte er einige Jahre in Kiel, davor in Greifswald. Seine Familie an der Ostsee besucht er regelmäßig, das sei ein wichtiger Ausgleich zum Musiker-Dasein.
Regelmäßiger Besuch an der US-Ostküste
Sells beste Freundin lebt seit zwei Jahren in den USA und arbeitet dort als Krankenschwester. Er besucht sie regelmäßig, lebt zeitweise einige Monate in Baltimore an der Ostküste. „Ich hab da eine Gitarre und kann dort auch arbeiten.” Man merkt, dass Christoph Sell diese Selbstbestimmtheit genießt. „Feine Sahne Fischfilet” probte früher regelmäßig in Greifswald. „Da hatten wir eine gewisse Aufenthaltspflicht.”
Auch ein Auslandsjahr war in der Vergangenheit nicht drin. Heute holt der Sänger das in gewisser Weise nach. Und seine US-Aufenthalte hatten auch Einfluss auf sein Album. Die fremde Umgebung, der Charakter der Menschen an der Ostküste – all das habe ihn gefestigt, erzählt er. „Es hat mir mental auch sehr geholfen.” Die Amerikaner, sagt er, hätten im Gegensatz zu den Deutschen ein anderes Verständnis von „einfach mal machen”. „Go with the flow” sagten sie ihm. Durchdenke nicht alles zu sehr. Die Message nahm sich der 33-Jährige zu Herzen. Er machte – und brachte sein Solo-Album zu Ende.
Auf CD und Schallplatte ist dieses erhältlich und digital auf allen Streamingplattformen. In limitierter Auflage von 100 Stück ist „Lost Times” auch auf Kassette zu bekommen. Eine Spielerei, sagt er. Im Frühjahr oder etwas später will Christoph Sell auf Tour gehen und seine Lieder live performen. Der Musiker weiß: „Beim live Spielen wachsen die Songs.” Dafür sucht er derzeit noch nach einer Band. Wichtig ist ihm, dass zwei Musikerinnen mit auf der Bühne stehen. Während „Feine Sahne” nur aus Männern bestand, soll es diesmal einen Gleichstand von Männern und Frauen geben. Christoph Sell tüftelt bereits an Liedern für ein nächstes Album. Vielleicht werden diese wieder etwas härter und punkiger – eine Erinnerung an seine musikalische Vergangenheit. Gina Apitz