Später stieg Sohn Mike mit ein - und aus dem Duo wurde ein Jonglage-Trio. Repro: privat
Später stieg Sohn Mike mit ein - und aus dem Duo wurde ein Jonglage-Trio. Repro: privat

Michael Schnelle sitzt im Wohnzimmer in seinem Haus in Markkleeberg, neben ihm liegen mit Glanzpapier umwickelte Keulen, viele Schwarz-Weiß-Fotos, Lexika und Flyer. Seine Frau Sigrid bietet Kaffee an. Das Gespräch könnte länger dauern, mutmaßt sie. Und sie wird recht behalten. Mehr als drei Stunden berichten beide von ihrem Leben als Profi-Jongleure in der DDR.

Michael Schnelle ist heute 80 Jahre alt, seine Frau 76. Beide ­blicken auf ein bewegtes Artistenleben zurück. Als „Mike-Schnelle-Duo“ und später als Trio mit ihrem Sohn standen sie auf den großen Bühnen der DDR, im Ostblock und auch im Westen. Sie durften ins Ausland reisen, ein Privileg, das den meisten DDR-Bürgerinnen und -bürgern verwehrt blieb. Die Artisten schafften es sowohl in ein westdeutsches als auch in ein ostdeutsches Zirkuslexikon.

Schnelle ist gebürtiger Leipziger

Michael Schnelles Geschichte beginnt in Leipzig. Hier wird er 1944 geboren. Als er sechs Jahre alt ist, zieht seine Mutter ohne ihn nach Hamburg, seinen Vater lernt er nie kennen. Er wächst bei seinen Großeltern auf, ist als Schüler im Pionier-Kabarett aktiv und studiert Sketche ein. „Ich hatte immer die negativen Rollen, die waren interessanter.” So macht er schon als junger Mensch Bühnenerfahrungen.

In der Nachbarschaft lebt eine weltberühmte Jongleurtruppe, die Wallastones. Michael ist davon fasziniert, kauft sich ein paar Gymnastikkeulen und bringt sich das Jonglieren selbst bei. Mit 15 Jahren gründet er eine eigene Keulenjongleurtruppe.

Artistik-Studium gefällt ihm nicht

Nach dem Abschluss der 10. Klasse wird er an der staatlichen Fachschule für Artistik in Berlin angenommen – doch dort bleibt er nur einige Monate. „Das Studium hat mir überhaupt nicht zugesagt”, erinnert er sich. Die Schülerinnen und Schüler sollen dort das ganze Spektrum der Artistik lernen. Darauf hat Schnelle keine Lust, er will lieber seine Keulen-Jonglage perfektionieren.

1961 bekommt er eine Anfrage vom Chef der berühmten Wallastone-Truppe aus Leipzig, ob er mitmachen wolle? Michael Schnelle sagt zu, wird fortan dort Lehrling. Der damals 17-Jährige integriert sich, lernt neue Tricks und Trainingsmethoden. Doch der despotische Chef führt ein strenges Regiment. Alle Artisten müssten im gleichen Takt jonglieren, ansonsten setzt es Backpfeifen.

Jongleur Mike Schnelle steht heute auch mit 80 Jahren noch auf der Bühne. Foto: André Kempner
Jongleur Mike Schnelle steht heute auch mit 80 Jahren noch auf der Bühne. Foto: André Kempner

Die anderen misstrauen dem Lehrling, glauben, dass er heimlich an einer eigenen Nummer tüftelt. „Es gab Konkurrenzdruck und Misstrauen.” Drei Monate lang reist er im Sommer 1961 mit den Walla­stones durch die schwedischen Volksparks. „Ich kam aus der grauen DDR in ein friedliches Land, das keinen Krieg gesehen hatte”, erinnert er sich an diese Zeit. Dann kommt der 13. August 1961. Vom Mauerbau hören die Artisten im Autoradio. Ihr Gastspiel geht planmäßig weiter.

Die Chance auf Flucht aus der DDR

In den ersten beiden Jahren nach dem Mauerbau dürfen die Artisten nur in der DDR und den Bruderländern auftreten. Es gibt große Shows im Berliner Friedrichstadtpalast, Gastspiele in der Sowjetunion, auch auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und in Tallinn im heutigen Estland. 1963 bekommt die Truppe die Erlaubnis, für einen einzigen Auftritt im Wiener Konzerthaus nach Österreich zu fahren.

Am 23. März 1963 sollen die Jongleure auf einer Gala eines amerikanischen Konzerns in Wien auftreten. Am Morgen sagt ihm der Chef der Truppe. „Wir fahren nicht zurück in die DDR. Du kommst doch mit?” Schnelle ist in den Fluchtplan nicht eingeweiht. Er ist damals 19 Jahre alt und lehnt das Angebot ab. Sein Chef sagt, er mache den größten Fehler seines Lebens.

Michael Schnelle will zurück nach Leipzig

Im Westen zu bleiben, ist für ihn kein Thema. Er will weg zurück zur Großmutter. Der Lehrling lässt sich ein Arbeitszeugnis ausstellen, beendet die Ausbildung vorzeitig, deckt sich noch mit Equipment ein, was er für eine eigene Nummer braucht – und fährt mit dem Zug zurück nach Leipzig. Zu Hause befragt ihn die Stasi zur Flucht seiner Kompagnons – doch sie erfahren keine weiteren Details.

„Nun stand ich plötzlich auf eigenen Füßen”, blickt Schnelle zurück. Vom Rat des Bezirks lässt er sich eine Auftrittsgenehmigung ausstellen, baut eine eigene Nummer auf und tingelt damit zunächst allein durch die Kneipen der Republik. 1964 bekommt er von der DDR einen offiziellen Berufsausweis. Dafür muss er eine Jury von seinem Können überzeugen. „Ich musste mich durchbeißen, es war nicht einfach.”

Dann lernt er seine spätere Frau und Artistik-Partnerin ­Sigrid kennen. Als sie hört, dass Michael eine Assistenz sucht, ist sie sofort Feuer und Flamme. „Ich wollte schon immer auf die Bühne”, sagt sie und ergänzt heute: „Da hab ich mich allerdings auf was eingelassen.” Michael bildet seine Partnerin selbst aus. „Das war richtig hart”, erinnert sich Sigrid Schnelle. Mehrmals will sie das Handtuch werfen. Michael ist ein strenger Lehrer, verlangt Disziplin und viel Übung. Anfangs darf sie mal eine Keule hinter dem Vorhang zu ihm werfen. Nach und nach wird sie Teil der Nummer und aus den Kollegen wird schließlich ein Liebespaar, sie heiraten bald darauf.

Auftritte im Berliner Friedrichstadtpalast

1969 stehen sie zwei Monate lang fast jeden Abend im Friedrichstadtpalast in Berlin auf der Bühne. Da war Sohn Mike gerade geboren. „Während des Auftritts haben die Feuerwehrleute auf ihn aufgepasst”, erzählt ­Sigrid Schnelle. 1972 arbeiten sie drei Sommer lang beim Staatszirkus der DDR, jeden Tag zwei Vorstellungen,120 Mark gibt es für 30 Spieltage. „Das war zu DDR-Zeiten viel Geld”, sagt Michael Schnelle. Sie entwickeln neue Tricks – darunter auch den berühmten Mike-Schnelle-Sprung, bei dem Michael über Sigrid springt, ihr die Keulen im Sprung abnimmt und damit weiterjongliert. Sohn Mike spielt in dieser Zeit mit den anderen Zirkuskindern.

Sigrid und Michael Schnelle waren zu DDR-Zeiten ein bekanntes Jongleur-Paar. Repro: privat

Sigrid und Michael Schnelle waren zu DDR-Zeiten ein bekanntes Jongleur-Paar.
Repro: privat

Im April 1978 bekommen sie ihr erstes Engagement im Westen. Sigrid und Michael Schnelle fahren nach Amsterdam, ihr Sohn muss in der DDR bleiben. Einen Monat lang treten sie Abend für Abend in einem Nachtlokal auf. Später haben sie Auftritte im renommierten Hansa-Theater in Hamburg. Sigrid Schnelle erinnert sich noch an ihren ersten Besuch in der Stadt im Norden 1979. „Hamburg war für mich der Horror.“ Die DDR-Bürgerin ist vom Angebot der Läden überfordert.

„Ich konnte nichts kaufen, ich hab nur gestaunt, was es alles gab. Das war Wahnsinn.” Bei ihren Auftritten im Westen lernen die beiden Artisten, mit dem Publikum zu interagieren. „Es ging darum, mit den Gästen zu spielen, vor ihrer Nase zu jonglieren, die Leute ein bisschen zu ärgern”, sagt Michael Schnelle. In Genf lassen sie sich von einem Spanier schillernde Kostüme mit schwarz-roten Flammen schneidern. „Sowas hatte in der DDR niemand”, sagt Sigrid Schnelle. „Dafür haben wir unsere ganze Gage geopfert.”

Sohn Mike steht mit auf der Bühne

Mit etwa zehn Jahren steigt auch Sohn Mike in das Artisten-Dasein ein. „Wir haben zeitig begonnen, ihn auszubilden”, sagt der Vater. So wird aus dem Duo ein Trio. Nach der 10. Klasse steigt der Junior in die Gruppe ein. Dann kommt der Mai 1989, mal wieder ein Auftritt im Hansa-Theater. Nach der letzten Vorstellung setzt sich Mike Schnelle, damals 19 Jahre alt, ins Flugzeug nach Westberlin und kehrt der DDR für immer den Rücken. Seine Eltern wissen nichts von seinen Fluchtplänen.

Nach Tagen erfahren sie, dass sich ihr Sohn nach Westberlin abgesetzt hat. Beide sind tieftraurig, aber auch wütend. „Wir waren auf dem Gipfel unserer Karriere”, sagt Michael Schnelle. Vater und Sohn jonglieren damals über Sigrids Kopf hinweg mit acht Keulen – eine Glanzleistung. Ohne ihren Sohn müssen die Eltern die geplanten Gastspiele absagen und machen fortan wieder als Duo weiter.

Gesundheitliche Probleme nach der Wende

Einige Monate später besiegelt der Mauerfall das Ende der DDR. Nach der Wende treten beide kürzer. Sie sind gesundheitlich angeschlagen. Mit 50 Jahren hört Sigrid wegen gesundheitlicher Probleme ganz mit dem Jonglieren auf und pflegt ihren kranken Vater. Michael Schnelle geht mit 60 Jahren offiziell in Rente. Sohn Mike holt nach der Wende sein Abitur nach und studiert Architektur. Er ist heute 55 Jahre alt, zweifacher Familienvater und Doktorand an der Freien Universität in Berlin. Jonglier-Keulen hat er nie wieder angefasst.

Nach der Wende suchte Mike wieder den Kontakt zu seinen Eltern. Heute haben die drei ein freundschaftliches Verhältnis. Michael Schnelle steht mit seinem Soloprogramm noch heute auf der Bühne. Und er wird es weiter tun – und zwar „bis zum Umfallen”, betont er. Er unterhält als Conferencier mit Gags und Wortspielen das Publikum, jongliert mit Hüten. Mit seiner Solonummer „Sir Mike” tritt er bei Goldenen Hochzeiten auf und hat noch immer Spaß daran, die Leute mit seinen Tricks zu verblüffen. Gina Apitz

www.schnelleshow.de

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