Eine Hofeinfahrt im Herzen von Wurzen. Weiße Stoffpuppen hängen an Seilen an der Fassade des gelben Hauses herab. Daneben ein riesiges Banner, das auf die neue Ausstellung hinweist. Sowas fällt auf, besonders in Wurzen.
Eine auffällige Gestalt ist auch der Künstler selbst, der hier – in einer ehemaligen Leuchtenfabrik – seit Februar sein Atelier installiert hat und seitdem großflächige moderne Kunst fabriziert. Esteban Velazquez von Wilhelm trägt ein weißes Hemd, ein buntes Tuch um den Kopf und eine schwarze Augenklappe. Er sieht damit ein bisschen aus wie ein Pirat. Und: Seine Geschichte würde sich glatt für eine Verfilmung eignen.
Der Venezolaner kam vor zehn Jahren als Asylbewerber nach Deutschland. In seinem Heimatland wurde er – vermutlich von Schlägern der Regierung – eines Tages überfallen und dabei so schwer verletzt, dass er sein rechtes Auge verlor. Wer die Ausstellung in Wurzen besucht, kann die Lebensstationen des 44-Jährigen in seiner Kunst nachvollziehen. Die Schau, die Ende August eröffnet wurde, spiegelt die Etappen seines Lebens wider – von Venezuela bis heute. Ab und an taucht er selbst auf in seinen Gemälden, gut erkennbar an der schwarzen Augenklappe.
Sächsische Kurfürsten als wichtiges Thema
In der Schau finden sich zahlreiche Porträts sächsischer Kurfürsten. Die Adligen haben es dem studierten Kunsthistoriker angetan. Sein Stil wird von manchen als „barock-abstrakt” bezeichnet. Die Ölbilder haben etwas Punkig-Schnodderiges. Die Farben trägt von Wilhelm nicht sauber auf. Sie sehen aus, als hätte der Künstler sie mit viel Energie auf die Fläche geworfen. Manche seiner Arbeiten sind komplett abstrakt: Man entdeckt wilde Farbkombinationen, teils zentimeterdick aufgetragen auf den selbst bespannten Holzplatten. Von Wilhelm malt mit Öl und einem Farb- pulver, das er selbst anmischt.
Er führt durch seine Ausstellungsräume. Dann läuft er mit schnellen Schritten über den Hof hoch ins Atelier. Auf 2000 Quadratmetern kann von Wilhelm sich hier austoben. Oben gibt es eine kleine Schneiderwerkstatt, in der er die Puppen herstellt und eine weitläufige ehemalige Werkshalle, die er kreativ nutzen kann.
An einer Stelle hängen viele schwarze Gummibänder von der Decke, eine neue Installation des Künstlers. Dasselbe Motiv taucht auch gemalt im Raum auf. Im Hintergrund läuft Opernmusik – so etwas oder Klassik hört er gern beim Malen. Einige fertige Arbeiten hängen bereits an den Wänden. Diese Distanz sei wichtig, sagt er. „Ich muss mir die Bilder von Weitem an einer Wand anschauen.” An einigen Werken tüftelt er wochenlang, verbessert immer wieder Details. Er schaut sich in der Halle um und sagt dann: „Kunst zu machen, das macht mich sehr, sehr glücklich.”
Angst das Augenlicht zu verlieren
Dann geht der Rundgang weiter, führt in seine Dunkelkammer, wo er völlig ohne Licht malt. Manchmal hat von Wilhelm eine irrationale Angst, dass er auch sein zweites Auge verlieren könnte. „Doch ich könnte auch arbeiten, ohne etwas zu sehen.” In der Dunkelkammer stellt er sich die Farbtöpfe links und rechts von dem am Boden liegenden Stoff auf – und legt los. „Ich sehe keine Fehler, kann nichts korrigieren”, sagt er. „Ich male dann nur nach Gefühl, nicht mit dem Kopf.”
An seinem „neuen Fürstenzug” – in Anlehnung an das historische Porzellanwandbild in Dresden – arbeitet von Wilhelm allerdings im Hellen. 50 einzelne Stoffbahnen werden von ihm gestaltet und am Ende zu einem Gesamtkunstwerk zusammengesetzt. Mit den Leuten vom Schlösserland Sachsen ist er bereits im Gespräch. Am liebsten würde er seine Arbeit im Stallhof des Dresdner Schlosses zeigen – ganz in der Nähe des Originals.
Wenn das nicht klappt, hängt er seinen modernen Fürstenzug vielleicht einfach in Wurzen auf, überlegt er. Von Wilhelm ist auch für diverse Street-ArtAktionen bekannt, die er ohne vorherige Genehmigung durchführt. Einmal verteilte er in Dresden mehrere schwere Steinplatten mit seiner Kunst darauf. Die Stadt ließ alle wieder wegräumen, aus Sicherheitsgründen. Auch in Wurzen plant von Wilhelm demnächst eine ähnliche Kunstaktion. Genaueres will er aber nicht verraten.
Doch warum hat sich der Künstler eigentlich für eine sächsische Kleinstadt als Arbeitsort entschieden? Seine Freunde rieten ihm: Geh nach Berlin oder Leipzig, stell dort aus. Doch Wurzen, sagt von Wilhelm, sei ein Glücksfall. „In dieser kleinen Stadt gibt es nicht viele Künstler. Hier kann man noch Spuren hinterlassen.” Und so will er einen Beitrag leisten zum kulturellen Leben in der Stadt. Vielleicht wird man sich in 20 Jahren an ihn und seine Kunst erinnern, hofft er. „In Berlin oder Leipzig wäre das nicht realisierbar.”
Ein netter Brief an die Nachbarschaft
In Wurzen fällt von Wilhelm dagegen sofort auf. Manchmal läuft er nur in einer Boxershorts durch sein Atelier, von oben bis unten mit Farbe beschmiert. Er schrieb extra einen Brief an die Wurzener Nachbarschaft, in dem er warnte: „Sie brauchen wegen meines Äußeren keine Angst zu haben.” Er bot sogar einen privaten Rundgang durch seine Ausstellung an. Ein paar Frauen und einige Jugendliche kamen vorbei. Er bekam Marmelade geschenkt. Nachdem Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) seine Schau Anfang August vorab besuchte, hat er viele neue Follower auf Instagram.
Hier geht es zur Website des Künstlers
Etwa alle sechs Monate soll es in Wurzen eine neue Schau geben. Jedenfalls, wenn von Wilhelm eine staatliche Förderung erhält und falls jemand seine Bilder kauft. Die kleineren etwa A4-großen Arbeiten fangen bei einigen hundert Euro an, an den größeren hängen Preisschilder mit teils fünfstelligen Beträgen. Noch wohnt der Künstler in Dresden. Jedes Wochenende fährt er mit der Bahn nach Wurzen. In der Fabrik hat er ein Notschlafzimmer, falls es abends mal zu spät wird und er den letzten Zug verpasst.
Foto der Tante auf dem Schreibtisch
In seinem Arbeitszimmer stehen auf dem Schreibtisch ein Foto seiner Mutter sowie eines seiner Großtante Angelina, letzteres in einem goldenen Rahmen. Beide Frauen haben den 44-Jährigen stark geprägt. Er sagt sogar: „Ich bin das Resultat dieser beiden Frauen.” Wie er selbst sind sie in seinen Kunstwerken verewigt, sind Teil seiner Ausstellung – und eröffnen einen Blick zurück in seine Lebensgeschichte: Von Wilhelm wird in Venezuela geboren, hat aber deutsche Wurzeln.
Sein Urgroßvater stammt aus Hamburg, führt Handelsbeziehungen mit dem Land in Mittelamerika – und wandert mit seiner Familie schließlich dorthin aus. 1945 wird seine Mutter geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist man in Venezuela auf Deutsche nicht gut zu sprechen. „Sie lehnte alles ab, was Deutsch war”, erinnert sich der Sohn, der mit seiner Mutter auch nie Deutsch sprach.
„Sie war sehr streng und verlor nicht viele Worte.” Von Wilhelms Vater sei zwar „ein liebevoller Mann” gewesen. Doch als Ölunternehmer ist er geschäftlich viel unterwegs und sieht den Sohn eher selten. Esteban von Wilhelm hat noch eine Schwester, die heute in Santiago de Chile lebt. Schon als Kind entdeckt er seine Leidenschaft für die Malerei, doch seine Mutter unterstützt sein Interesse nicht. Einmal zerreißt sie vor seinen Augen alle seine Arbeiten.
Hilfe erfährt er hingegen von seiner Großtante Angelina, die er „meine Mäzenin und Beschützerin” nennt. Als Teil einer Installation mit Puppen ist sie auch in der Ausstellung in Wurzen zu sehen. Sie sitzt gemeinsam mit ihrem Neffen an einem Banketttisch. Nach der Schule studiert Esteban von Wilhelm Geschichte und später Kunstgeschichte. Er zieht von zu Hause aus und lebt bei seiner Tante, einer Antiquitätensammlerin und Kunstliebhaberin. „Sie war die Mutter, die ich haben wollte”, sagt er. „Sie war wie eine Universität für mich.” Tante Angelina unterstützte ihn finanziell und ermutigte ihn, zu malen. „Das war meine goldene Zeit”, sagt von Wilhelm rückblickend.
Eigene Kunst-Zeitschrift gegründet
Mit dem Geld der Tante gründet er eine Zeitschrift für Lifestyle und Kunst – und nennt sie nach sich selbst „Wilhelm international Magazine”. Er beschäftigt 17 Mitarbeitende, reist in die USA und bekommt in Los Angeles sogar einen Preis verliehen. Er veröffentlicht jedoch auch latent kritische Artikel und unterstützt Oppositionelle. Der kommunistischen Regierung Venezuelas ist der außerdem offen homosexuell lebende Herausgeber zunehmend ein Dorn im Auge.
Erst werden die Papierlieferungen für das Magazin blockiert, eines Tages verschaffen sich drei vermummte Männer Zutritt zu seinen Redaktionsräumen. Von Wilhelm ist an diesem Tag – einem Samstag – allein im Büro. Die Täter drücken ihm einen Lappen mit einem Betäubungsmittel ins Gesicht und schlagen 17 Mal mit einem Hammer auf ihn ein. Sie stehlen seine Computer und verschwinden.
„Der rote Stuhl war meine Möglichkeit zu überleben.”
Als er Stunden später aus der Bewusstlosigkeit erwacht, schafft er es nur mit Hilfe eines roten Küchenstuhls die Treppe hinunter und raus aus der Redaktion. Dieser Stuhl taucht in mehreren seiner Arbeiten in Wurzen auf – als Erinnerung an den schlimmsten Tag seines Lebens und gleichzeitig als Symbol seiner Rettung: „Der rote Stuhl war meine Möglichkeit zu überleben.” Durch den Angriff erleidet er mehrere Knochenbrüche, sein Auge wird so schwer verletzt, dass es nicht gerettet werden kann. Ein Jahr lang verbringt er im Krankenhaus, wird ein Dutzend Mal operiert.
Regierung für Überfall verantwortlich?
Von Wilhelm ist davon überzeugt, dass die Regierung hinter dem Überfall steckt. Beweise hat er dafür nicht. Doch klar ist: Er ist dem Tod von der Schippe gesprungen. „Die Ärzte sagten mir, es war so knapp wie ein Mikromillimeter.” bis heute erinnern ihn Narben an den Händen an den Angriff – und die Augenklappe an den schweren Verlust.
Der Glaube an Gott hilft ihm in dieser schweren Zeit. Nach und nach findet der Künstler seinen Lebensmut wieder. Er veröffentlicht sein Magazin in den Nachbarländern. Doch die Angst vor einem erneuten Angriff bleibt. Außerdem bekommt er Drohungen auf Instagram. Jemand schreibt ihm: „Du bist noch am Leben?”
Viele raten ihm, abzuhauen. Doch erst als seine Tante Angelina mit 94 Jahren stirbt, verlässt von Wilhelm Venezuela. Seine Ersparnisse sind aufgebraucht, ein Freund sponsert ein Flugticket nach Deutschland. Das war vor zehn Jahren. In München beantragt er Asyl, wird dann von der Behörde nach Dresden geschickt.
Asylantrag wird genehmigt
Hier beginnt sein neues Leben. Seinem Asyl wird stattgegeben, er darf bleiben. Inzwischen hat sich der Venezolaner in Dresden als Künstler etabliert. Er spricht ziemlich gut Deutsch, was er erst vor einigen Jahren gelernt hat, hat Freunde gefunden. Seine schwer kranke Mutter holte er zuletzt ebenfalls nach Dresden. Sie starb im Oktober vergangenen Jahres. In den zwei Jahren vor ihrem Tod kam er ihr wieder näher, sagt er. „Es war ein Reparaturprozess.”
„Ich habe mich rückblickend immer wie ein Fremder gefühlt.”
Derzeit absolviert von Wilhelm eine Ausbildung als Mediengestalter, er will sich künftig auch in digitaler Kunst probieren. Venezuela vermisst er nicht, sagt er. „Ich habe mich rückblickend immer wie ein Fremder gefühlt.” Er habe nicht das Temperament seiner Landsleute. In Deutschland fühle er sich wohl.
Und er hat große Pläne für die Fabrik in Wurzen: Er will andere Künstler einladen, hier für eine Woche zu bleiben und zu arbeiten. Dafür müsste er allerdings einen weiteren Bereich der Werkshallen ausbauen. Noch ist das Ganze Zukunftsmusik. Doch von Wilhelm will sein neues Projekt schon in Kürze anpacken. Gina Apitz