Er zeigt eine wahrlich umfangreiche Retrospektive in einer Freiluftausstellung auf dem Süd- friedhof: Fotograf Gerd Lehmann. Foto: André Kempner
Er zeigt eine wahrlich umfangreiche Retrospektive in einer Freiluftausstellung auf dem Süd- friedhof: Fotograf Gerd Lehmann. Foto: André Kempner

Da ist diese Sache mit den Widersprüchen. Gewissermaßen die rote Linie durch ein Leben. „Eigentlich bin ich ja bis heute ungelernter Fotograf“, sagt Gerd Lehmann mit einem Lächeln, die einfach unvermeidliche Zigarette in der Hand. Und zwar ein Fotograf, der einst zu DDR-Zeiten internationale Preise einsammelte für seine Fotos, Modefotos genauer gesagt – die er machte als einer, der Inszenierungen eigentlich geradezu hasste.

Nächster Widerspruch: Er hielt sie in Bildern fest, die Techno- und Gothic-Szene der Stadt Leipzig – obwohl er außer „Frank Schöbel und den Beatles“ keine Musik kannte. Klingt paradox, gewinnt aber umgehend an Logik, wenn man mal durch die gewaltige Freiluftgalerie im Südfriedhof spaziert.

Es gibt viel zu entdecken

Hier lernt man ihn kennen, den Menschen Gerd Lehmann – über den Fotografen Gerd Lehmann hinaus. Es sind nicht nur die 600, 700 Fotos – übrigens viele in klassischem Schwarz-Weiß! – die viele Geschichten erzählen – es sind auch Texte, philosophische Gedanken, Erzählungen über mystische Zahlensymbolik, die man entdecken kann. Auch wenn ihm das Texten wesentlich schwerer gefallen ist als das Fotografieren, wie er erklärt. Doch diese Ausstellung im Südfriedhof ist sein ganz großer Wurf.

Sein wichtiges Lebenszeichen. Mit einer Mischung aus Trotz und Verschmitztheit erklärt er: „Ich habe mich immer um meine Arbeit gekümmert, nie um das Angeben. Aber nun braucht es mal diese Klarstellung, dass es mich in Leipzig auch noch gibt.“ Gut, diese Klarstellung ist gelungen – und angekommen. Was sich beispielsweise vor ein paar Wochen zeigte. Als an einem Samstag ein ordentlicher Sturm über die Messestadt zog und eben auch die große Schau unter freiem Himmel im wahrsten Sinne des Wortes durcheinanderwirbelte.

Fotoschau musste neu aufgehängt werden

Und als Gerd Lehmann tags darauf in den Südfriedhof kam, „habe ich die Lücken zwischen den Bildern gesehen. Ehrlich, da hab’ ich eine Krise bekommen“. Denn Gerd Lehmann ist Jahrgang 1945, da war ans Bilder-Aufsammeln und -Aufhängen von Dutzenden Fotos nicht zu denken. Aber dann kam die Überraschung: „Auf einmal waren Menschen da, die mir helfen wollten. Und so haben sie damit angefangen, mit mir zusammen diese Ausstellung wieder aufzubauen – nach drei Stunden sah sie aus wie vor dem Sturm.“ Mit einem Lächeln sagt er – und dies ist ihm ganz wichtig: „Diese Menschen haben einen ganzen Nachmittag für meine Ausstellung geopfert! Und ich weiß nicht mal, wer diese Leute waren – aber auf jeden Fall möchte ich Danke sagen.“

Ohnehin, das Feedback. Das ist irgendwie schon ein Lebenselixier für den Leipziger. Der übrigens an jedem Sonntag zu finden ist im Südfriedhof, meist mit der erwähnten unvermeidlichen Zigarette in der Hand und immer bereit für ein Gespräch. Es hat sich offenbar ein wenig herumgesprochen, dass hier im Südfriedhof ein Stück Leipziger Geschichte dokumentiert ist – es kommen immer wieder Menschen, die in der Ausstellung geradezu versinken. Und die dann gern mit Gerd Lehmann sprechen, weil sie sich beispielsweise wiedererkennen auf einem der 600, 700 Fotos. Gab’s schon einige Male, erzählt der Fotograf. Na ja, eigentlich kein Wunder, hatte er doch vieler seiner Motive gewissermaßen auf den Leipziger Straßen gefunden …

Die Modefotografie als Ausweg

„Mir geht es immer um Natürlichkeit in den Fotos“, erzählt er zwischen den Zigaretten und lächelt: „Das kommt zum einen bei den Menschen gut an. Und dann fühlt sich das, was ich in meinem Leben gemacht habe, auch wieder richtig an.“ Das gewisse paradoxe Moment sieht Gerd Lehmann sehr wohl – denn Modefotografie geht heutzutage nicht unbedingt als Hort der Natürlichkeit durch – doch einst war diese Form des Arbeitens der einzige Ausweg.

Und zwar raus aus den Zwängen, die der gut durchpolitisierte DDR-Alltag so mit sich brachte, auf die wieder ein junger Gerd Lehmann so gar keine Lust hatte. Eine – nun ja – „normale“ Fotografenkarriere kam nicht in Frage, weil er beispielsweise bis heute Uniformen hasst und die Inszenierung des Alltags ebenfalls.

Exzellentes Auge für das Motiv

Was wiederum nichts an der Tatsache änderte, dass er schon immer ein exzellentes Auge hatte für das Motiv. Für den Zauber des Augenblicks, den er mit der Kamera einzufangen verstand. Schon seine ersten Bilder gingen geradezu durch die Decke, da kamen die – nun ja – Models noch aus der Nachbarschaft. Die junge Turnerin zum Beispiel, die ihre Medaillen feierte. Nur die Sache mit dem System, nun ja, die funktionierte überhaupt nicht: Dreimal nahm Gerd Lehmann den Studien-Anlauf an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, dreimal endete das Ganze mit einer Exmatrikulation.

„Jetzt fotografiere ich nur noch im Kopf.“

Das alles ergab sich nicht unbedingt, weil er sich politisch äußerte, sondern vielmehr, weil er diese politischen Dinge achtlos wegließ und sie – beispielsweise – auf die eigene Arbeit fokussierte: „Beim ersten Mal haben meine Anwesenheitspunkt nicht gereicht.“ Was irgendwie in den Sechzigern und Siebzigern in der DDR ja auch schon wieder politisch war.

„Und dann habe ich für mich das Hintertürchen Mode und Freiberuflichkeit gefunden“, lächelt er. Die Idee, als Fotograf um die Welt zu reisen, war da schon geplatzt – ach ja, die Westverwandtschaft. Und weil Gerd Lehmann – einst sogar im Radsport und Skilanglauf als Leistungssportler unterwegs und entsprechend trainiert – nicht nur als Kellner, sondern auch als Model arbeitete, war die Verbindung da: „War ja auch ganz schön als junger Mann zwischen all den schönen Frauen.“ Wieder ein Lächeln und ein Zug an der Zigarette.

Eine Karriere in Wellen

Es war der Startschuss für eine Wellenbewegung, wie man sie so wohl nur in einem Land wie der DDR verfolgen kann. Auf der einen Seite Gerd Lehmann der Geschmähte, der mit Schimpf und Schande vom HGB-Hof gejagt wurde. Auf der anderen Seite Gerd Lehmann der Superstar, dessen Fotos international Preise abräumten und von allen wesentlichen Zeitschriften in der DDR abgedruckt wurden. „Zum Teil muss man im Nachhinein über diese ganzen Geschichten lachen“, sagt er. Und ergänzt: „Aber natürlich gab’s für mich auch ein Ziel – als junger Mensch will man ja die Welt verbessern: Und ich wollte unbedingt in diese damals so unglaublich steifen Modemotive endlich Bewegung reinbringen.“ Womit er ganz offenbar den Nerv der Zeit getroffen hat.

Der große Bruch kam 1987. Da kam er einfach von einer Beerdigung nicht wieder zurück in die DDR. „Irgendwie war das schon eine Bildungsreise für mich“, berichtet er von der – nun ja – Republikflucht nach Westberlin. Bei der es kein bisschen um Politik ging, sondern darum, endlich auch mal den großen Vorbildern aus dem Westen die Hand schütteln zu können. Um dann mit den Augen zu lernen. Klingt heute ein wenig abgefahren, passt aber perfekt zur Lehmann’schen Selbstdefinition: „Ich habe immer das gemacht, was ich wollte.“

„Ich habe immer das gemacht, was ich wollte.“

Womit die nächsten irren Geschichten begannen: Jene über die Zufallsbekanntschaft mit Udo Waltz, der spontan als „Mietbürge“ für das Atelier am noblen Ku’damm fungierte. Und mit den ersten Aufträgen vor der Tür stand. Es waren, so überlegt Gerd Lehmann, ziemlich goldene Jahre, wirtschaftlich gesehen, aber auch ein bisschen kompliziert. Berlin und der leidenschaftliche Leipziger, das war keine perfekte Kombination: „Auch in Westberlin habe ich immer an mein Leipzig gedacht. Berlin ist so weitläufig und dadurch ist es auch schwieriger, Kontakte zu knüpfen.“ Und weil er immer das gemacht hat, was er wollte – na ja, war die Rückkehr nach Leipzig (vollzogen 1992) ein naheliegender Schritt.

Das Eintauchen in die Welt der „Szene“

Weniger naheliegender war auf den ersten Blick, welchen Themen sich der Rückkehrer dann widmete. Wie gesagt – auf den ersten Blick, auf den zweiten lässt sich die Kontinuität schnell erkennen. Stichwort Natürlichkeit und – ja – irgendwie auch Authentizität. „Es gibt so viele Themen in Leipzig“, meint Gerd Lehmann lächelnd – seine Motive fand er wiederum an jenen Orten, die man gemeinhin mit dem etwas unscharfen Begriff „Szene“ bezeichnet.

In den Techno-Clubs der Stadt, den halblegalen und illegalen (Wohnzimmer-)Kneipen, in der Welt von Wave und Gothic. Das Verblüffende dabei: In diesem generell etwas zugeknöpften Universum, was das Thema Öffentlichkeit betrifft (um es mal wohlwollend zu formulieren – der Autor weiß, wovon er spricht), fand der Fotograf schnell Zugang. „Ich bin einfach hingegangen, weil es mich interessiert hat. Und ich habe mich unter die Leute gemischt.“ Entstanden ist so ein bemerkenswertes, einzigartiges Bilderbuch einer Stadt im kompletten Umbruch – eine Leipzig-Story, die so in Fotos kaum mal festgehalten wurde.

Bemerkenswert sind dabei vor allem die Motive – mindestens ebenso spannend ist aber auch die Methode, wie diese Bilder entstanden sind. Das Blitzlicht war natürlich ein Tabu, jede Idee von Natürlichkeit wäre dahin gewesen. Sonderlich hell war es in der erwähnten „Szene“ nun aber auch eher selten. „Ich habe den Menschen in die Gesichter geschaut. Beobachtet, was passiert. Und dann bekommt man ein Gefühl für den einzigartigen Moment – und dann habe ich blitzschnell die Kamera unter der Jacke gezogen“, erzählt Gerd Lehmann.

Viel Training und Übung

Klar, da ist Intuition dabei, viel passiert unbewusst, „aber es steckt eben auch Training und Übung drin“. Und nach einem Zug an der Zigarette ergänzt er: „Vorbereitung ist in der Fotografie der wichtigste Punkt. Wenn man sich nicht vorbereitet, die Einstellungen an der Kamera eben nicht vorher machst, sind es die Dinge, die man im entscheidenden Moment vor Ort nicht mehr verändern kann.“

Genau da liegt auch der Grund, warum der Leipziger die Kamera aus der Hand gelegt hat. Gut, mit dem digitalen Fotografieren wurde Gerd Lehmann eh nicht warm – zu teuer war einst mal das Equipment, zu schlecht auch in den digitalen Pioniertagen die fotografische Qualität. „Aber der Körper macht auch nicht mehr mit“, sagt er ehrlich – wenn man die (analoge) Kamera nicht mehr ruhig halten könne, mache das Fotografieren auch keinen Sinn mehr: „Mir ist es bei meinen Fotos immer um die Momente im Bruchteil einer Sekunde gegangen, um die kleinen Höhepunkte im Alltag. Jetzt fotografiere ich im Kopf.“

Am besten links starten!

Sagt es, lächelt und zieht an der Zigarette – man kann förmlich spüren, wie diese Bilder entstehen und vielleicht sogar abgespeichert werden. Immerhin, die Gelegenheit dazu hat Gerd Lehmann in diesen Tagen wieder viel häufiger. An jedem Sonntag auf dem Leipziger Südfriedhof, wenn mal wieder Menschen vorbeischauen und Lust mitbringen auf ein Gespräch. Zu erzählen gibt es ja noch so viel, über die Zahlensymbolik, der er sich widmet. Und die auch ihren Niederschlag findet in der Freiluftausstellung. Dabei gibt er allen einen wichtigen Tipp an die Hand: „Beim Rundgang am besten links anfangen! Sonst startet man von hinten – und das kann bei den philosophischen Texten auch mal ein wenig kompliziert sein, sich in die Ausstellung hinein zu finden.“ Jens Wagner

Die Freiluftausstellung „Gerd Lehmann: Eine Retrospektive“ auf dem Leipziger Südfriedhof (Nordeingang) kann man noch zu den gewohnten Öffnungszeiten bis zum 22. September besuchen

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