Manchmal genügt ein einfacher Anruf, damit eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte ihren Anfang nehmen kann. Bei Nele Kurzke klingelte im vergangenen Jahr das Telefon, am anderen Ende hatte Alexander Novakovic – seines Zeichens Trainer der deutschen Beachhandball-Nationalmannschaft – mal eine Frage. Oder besser gesagt die Frage aller Fragen: Lust auf das Nationaltrikot? Das wunderbare Ende vom schönen Lied: Im Juli 2024 darf sich die Torfrau des HC Leipzig nunmehr Weltmeisterin nennen.
Unverhofft kommt oft. Und das Überraschende sorgt dann gern auch mal für allerbeste Stimmung. „In der Halle wäre ich wohl keine Weltmeisterin geworden“, sagt Nele Kurzke mit einem Lächeln. Doch auf Sand gab es im chinesischen Pingtan ein Happy-end nach einem knackigen Turnier: Mit der Leipzigerin als einziger Torhüterin im Kader (!) konnte den Titel holen – oder besser gesagt sogar verteidigen. „Das war schon eine andere Drucksituation, wenn man als amtierende Weltmeisterinnen in so ein Turnier geht“, überlegt die Leipzigerin: „Und ich ziehe echt den Hut davor, wie diese junge Mannschaft mit diesem Druck umgegangen ist.“
Der Druck war schon da
Wobei auf der anderen Seite schon auch ein gewisser Druck auf der 34-Jährigen lastete, die da „auf einem nicht gerade unwichtigen Posten“ erst relativ neu in die Truppe gekommen ist. Und in die Fußstapfen einer Katharina Filter tritt, die ihrerseits im Olympia-Aufgebot der deutschen (Hallen-)Handballerinnen steht und zu den besten Torhüterinnen in Europa zählt. „Eigentlich habe ich nur eines gedacht: Du musst unbedingt dafür sorgen, dass die Mannschaft nicht ganz hinten im Feld landet.“ Diese Mission ist aber mal so etwas von geglückt – trotz Rückschläge wie etwa einer Roten Karte für die Leipzigerin, die deshalb zwischenzeitlich zuschauen musste. Und die Lust auf weitere Herausforderungen ist ohnehin längst geweckt.
Was zum einem am Beachhandball an sich liegt: Mit dem kam Nele Kurzke schon mal kurz, aber eher weniger nachhaltig in Berührung, als sie von einigen Jahren bei Bayer Leverkusen spielte. Doch nach dem erwähnten Anruf von Alexander Novakovic ging es erst richtig los: „Das hat wirklich mehr Spaß gemacht als ich gedacht habe“, erzählt die gebürtige Leipzigerin und auch davon, dass da auch gleich das erste Erfolgserlebnis folgte mit der Bronzemedaille bei den European Games im vergangenen Jahr.
„Dopamin ist wie eine Sucht“
„Es sieht einfach genial aus, wenn die Spielerinnen scheinbar in der Luft stehen und dann auch nach diversen Pirouetten abschließen“, kommt die Torfrau dann doch ein wenig ins Schwärmen. Und sie spricht von der höheren Spielgeschwindigkeit auf Sand und davon, dass beim Beachhandball eine Partie viel schneller kippen kann. „Selbst Spielerinnen wie ich mit viel Hallenerfahrung müssen schon noch ordentlich dazulernen“, wobei Nele Kurzke aber ziemlich bewusst den Vergleich zwischen Sand und Halle eben NICHT zieht. Weil es dann doch zwei ziemlich unterschiedliche Paar Schuhe sind – und man das eine nicht gegen das andere aufrechnen kann.
Was wiederum gerade bei den Fans vom HC Leipzig für nachhaltiges Aufatmen sorgen kann: Ja, sie wird auch in der anstehenden Saison das Leipziger Trikot überziehen – weil es ohne den Handball im Allgemeinen und den Hallenhandball im Besonderen dann doch nicht geht. „Ich kann doch nicht ohne Sport“, sagt Nele Kurzke mit einem Lächeln: „Das Dopamin ist schon eine Sucht – davon will der Körper immer mehr.“
24 Jahre Hochleistungssport
Und mit einer spürbaren Ernsthaftigkeit ergänzt sie: „Wenn man 24 Jahre Hochleistungssport treibt und sein ganzes Leben danach ausrichtet, kommt danach so eine echte Leere: Man fragt nach der Sinnhaftigkeit seines Lebens, man sucht nach der Bestätigung, die man vorher immer erfahren hat.“
Dabei erwischt sie die Frage, was nun eigentlich die Faszination Handball ausmacht, schon ein wenig auf dem falschen Fuß – darüber habe sie sich noch nie wirklich Gedanken gemacht. Handball war immer da, allein schon, weil der Vater auch gespielt hat. „Und Volleyball war einfach nichts für mich“, sagt sie mit einem Lächeln – das Tor hingegen schon. Über einen gewissen Umweg: „Wer mit Handball anfängt, will Tore werfen – auch weil man dann viel stärker im Fokus steht. Aber als beim Training mal eine Torhüterin fehlte, bin ich einfach reingegangen. Und es hat sofort Spaß gemacht – auch, weil es sofort funktioniert hatte.“
„Eine große Ehre, dort spielen zu dürfen“
So gut, dass ziemlich schnell der HC Leipzig auf die junge Nele Kurzke aufmerksam wurde. Das war 2003 und der HCL damals DER Verein in der Messestadt – mit Erfolgen und Titeln auf der Habenseite, von denen man einst in anderen Sportarten nicht mal zu träumen wagte. „Das war schon eine große Ehre, dort spielen zu dürfen“, blickt Nele Kurzke zurück. Ob diese Vergangenheit eine Rolle spielte im vergangenen Jahr beim Comeback in der Messestadt?
Wohl eher nicht, überlegt sie: „Dass ich eines Tages mal wieder zum HCL zurückkehre, daran hätte ich nach der Insolvenz 2017 niemals gedacht.“ Und nach einer Pause ergänzt sie: „Letztlich war es eine eher pragmatische Entscheidung: Der HCL war für mich die beste Option, um die sportliche Karriere, meinen Beruf als Lehrerin am Sportgymnasium und die Familie unter einen Hut zu bekommen.“
Dem Nervenzusammenbruch nahe
Dabei war der Start – nun ja – ein wenig ruckelig. Nach dem ersten gemeinsamen Training, erzählt die Torfrau, war sie dem Nervenzusammenbruch nahe. „Über allem stand die Frage: Was mache ich hier?“ So blickt Nele Kurzke zurück, spricht ganz offen von einem sportlichen Abstieg aus der Bundesliga, „der schon ein bisschen wehtut“ und mit einem Lächeln davon, dass diese erwähnte erste Trainingseinheit in erster Linie auf die Athletik setzte: „Darauf hatte ich nie wirklich Lust. Aber nach der kurzen Krise ging es schnell wieder bergauf.“
Was auch mit Wieland Schmidt zu tun hat, seines Zeichens 70-jähriger Torwarttrainer beim HCL. „Ich hatte in meiner Karriere das Glück, mit den beiden wohl besten Torwarttrainern der Welt zu arbeiten“, sagt Nele Kurzke (der andere ist übrigens Andreas Thiel). Und sie erzählt begeistert: „Wahnsinn, wie er mit seinen 70 Jahren immer noch diese Jugendlichkeit ausstrahlt. Wie er sich ständig etwas Neues für sein Training einfallen lässt. Und außerdem finde ich es richtig gut, wenn da jemand steht, der ganz genau weiß wie es ist, im Tor zu stehen.“
Leistungssport und Familie unter einem Hut
Da ist dann noch etwas im „Gesamtpaket“ HCL, was eben auch den Ausschlag gegeben hat, dass Nele Kurzke gern noch eine Spielzeit in Blau-Gelb dranhängt. „In Deutschland hat man in diesem Punkt echt viel Nachholebedarf: Wie kann man Leistungssport und Familie unter einen Hut bekommen“, merkt die Torfrau kritisch an: „Hier in Leipzig gibt es da ganz viel Verständnis: Ein Kind beim Training ist eine Selbstverständlichkeit.“
Was wiederum für Nele Kurzke eine Selbstverständlichkeit ist – auch als Mutter sei man doch immer noch eine (Leistungs-)Sportlerin mit Ehrgeiz, Lust und Leidenschaft, mit Zielen und Träumen. Von Weltmeisterschaften im Beachhandball beispielsweise: „Wobei ich da sofort klar gemacht habe, dass ich nur dann dabei bin, wenn ich auch mein Kind mitnehmen kann.“ Der Ausgang der Geschichte ist bekannt – ein gutes Beispiel, dass man es schaffen kann, diese Dinge unter einen Hut zu bringen.
„Das kann gern noch weiter transportiert werden“, wünscht sie sich: „Für mich stand es nie zur Disposition, mit dem Leistungssport aufzuhören.“ Gut für den Leipziger Handball, aber auch für die deutsche Beachhandball-Nationalmannschaft. Denn natürlich hatte es seinen gewichtigen Grund, dass Bundestrainer Alexander Novakovic ausgerechnet die Nummer von Nele Kurzke wählte.
Gefragt war schließlich eine gestandene Torfrau, die mit schnellen und präzisen Pässen die Offensivaktionen auf Sand einleiten konnte. Eine Stellenbeschreibung, die perfekt auf Nele Kurzke passte – das hat sie einfach drauf. „Bei meinem ersten Kontertraining war ich vielleicht elf oder zwölf Jahre alt“, erinnert sie sich: „Und das mit den Passen hat einfach von Anfang an funktioniert. Da scheine ich ein ganz gutes Händchen zu haben.“
Nicht noch eine neue Herausforderung
Bemerkenswert ist aber gerade mit Blick auf den Beachhandball eines: Im Gegensatz zu den Kolleginnen aus dem Nationalteam wie etwa Kapitänin Lucie-Marie Kretzschmar (die man in Leipzig ja auch noch gut kennt) spielt Nele Kurzke nicht noch zusätzlich zur Halle in einer eigenen Beachhandball-Mannschaft. Zum einen, weil es in der Region einfach keine gibt: „Und in meinem Alter suche ich mir besser nicht noch eine neue Herausforderung.“
Die hat Nele Kurzke genug mit der Familie, aber auch der Rolle als Führungsspielerin und Lehrerin. Als Vorbild in mehrfacher Hinsicht, auch wenn sie einschränkt: „Ich freu mich immer, wenn auch HCL-Spielerinnen bei mir im Unterricht sitzen. Aber ich war selbst nie jemand, der große Vorbilder hatte. Und ich denke über diese Vorbildrolle auch nicht nach, wenn ich auf der Platte stehe – da ist man wirklich im Tunnel.“
Ohnehin denkt sie das Thema Vorbild dann doch ein wenig anders – eher in die Richtung der Persönlichkeitsbildung. „Mir geht es darum, die Mädchen und Jungen zu befähigen, den eigenen Kopf zu benutzen“, erklärt sie und ergänzt: „Klar, eine Meinung kann jeder Mensch haben – aber man sollte sie begründen können. Zudem ist Empathie ohnehin eine der wichtigsten Charaktereigenschaften – ganz gleich, ob man eine Sportlerin oder eine Lehrerin ist.“ Und es ist für sie eine Selbstverständlichkeit, dies vorzuleben und zwar richtig gern, „auch wenn dies nicht immer ganz einfach ist. Aber dies weiß jeder, der ein pubertierendes Kind hat“.
„Handball ist ein ehrlicher Sport“
Ganz zum Schluss geht es dann doch noch einmal um den Handball. Im Allgemeinen wie im Besonderen. Um die Faszination und die Variationen. „Ich denke, Handball ist einfach schnell, es passiert sehr viel. Und es ist ein ehrlicher Sport – zumindest sagen dies viele Menschen, die sich Handball anschauen“, überlegt Nele Kurzke.
Und sucht nach Erklärungen für die ganz eigene Leidenschaft: „Es ist wie bei jeder Sportart: Man macht dies alles, weil man es machen will. Man steckt all die Zeit, die körperlichen Leiden und manchmal auch das Geld hinein, weil man Erfolg haben möchte.“ Der sich dann nicht mal immer in Titel, Medaillen oder gar Schecks äußern muss, sondern vielleicht in der Erfüllung einer Vision. Die sich bei Nele Kurzke schon um den Beachhandball dreht: „So lange der Körper mitmacht, ich alles unter einen Hut bekomme und der Trainer mich will, bin ich dabei. Und ich hoffe, dass der Handball auf Sand mal den gleichen Stellenwert bekommt wie der in der Halle.“ Jens Wagner