Er hält den metallenen Kugelschreiber flach unter seiner Hand. „Den könnte ich als Waffe benutzen”, sagt Simon Stegemann und zeigt die Schlagtechnik, die damit verbunden ist. Er könnte den Stift zu Notwehr gezielt einsetzen. „Aber“, sagt Stegemann, sowas müsse man üben. Und zwar oft. Andernfalls könnte die Aktion schnell nach hinten losgehen.
Der 36-Jährige muss es wissen. Er gibt Kurse zum Thema Selbstverteidigung. Vorwiegend Frauen, aber auch Männern bringt der Bad Lausicker bei, wie sie sich bei einem Angriff zur Wehr setzen können. Sein wichtigster Ratschlag: abhauen. Wird die Situation brenzlig, sei es am cleversten, das Weite zu suchen. „Jeder vermiedene Kampf ist ein gewonnener Kampf”, betont er. Statistisch gesehen sei es zwar eher unwahrscheinlich, dass in Deutschland jemand in eine haarige Situation hineingerät. „Wir leben in einem sicheren Land”, sagt Stegemann. Dennoch sei es nicht verkehrt, einige Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Auch er hat schon Angriffe erlebt. Einmal musste er seine Frau auf einem Volksfest verteidigen – keine schöne Erinnerung.
Den einen Trick oder Handgriff gebe es im Übrigen nicht. „Ein Angriff ist nie gleich”, sagt der Experte. Die Gegebenheiten vor Ort unterscheiden sich, auch das Größenverhältnis der Beteiligten. „Es gibt keinen hundertprozentigen Schutz“, macht er deshalb klar. „Wenn mir jemand von hinten auf den Kopf schlägt, dann kann auch ich nichts machen.”
Auf das eigene Bauchgefühl vertrauen
Sein wichtigster Tipp in Sachen Selbstverteidigung: Hör auf dein Bauchgefühl. Wenn die dunkle Gasse mit einem unguten Gefühl verbunden ist, dann sollte man dort besser nicht entlang gehen. „Feine Antennen braucht man”, findet Stegemann. „Meistens ist da nämlich etwas dran.” Der Trainer rät generell zur Flucht statt zur Konfrontation mit einem Angreifer. Sinnvoll sei es auch, Mitmenschen um Hilfe zu bitten. Dabei seien eine gezielte Ansprache und klare Anweisungen entscheidend: „Sie in der gelben Jacke, können Sie den Notruf wählen?”
Allerdings: Die Art der Zivilcourage sollte man sich vorab gut überlegen, gibt Stegemann zu bedenken. „Muss ich dazwischen gehen, wenn sich zwei prügeln?”, fragt er rhetorisch. Klüger sei es, einen Notruf abzusetzen. Auch das sei eine Form der Zivilcourage. „Es ist abzuraten, dazwischen zu gehen und sich selbst zu gefährden.”
„Wenn mir jemand
von hinten auf den
Kopf schlägt, dann
kann auch ich
nichts machen.”
Auch von Pfefferspray in der Handtasche hält der Fachmann nicht viel. Stegemann schüttelt bei der Frage danach den Kopf. Man müsse extrem gut geschult in der Anwendung sein und vorher das Zielen üben. Sicherheitskräfte etwa könnten so ein Spray richtig anwenden, Laien würden sich dagegen sehr wahrscheinlich eher selbst Schaden zufügen. Denn: „Unter Stress funktioniert die Feinmotorik nur eingeschränkt.”
Die Psychologie sei in einer derartigen Ausnahmesituation nicht zu unterschätzen. „Man muss sich erst mal überwinden, jemandem ins Gesicht zu schlagen”, gibt er zu bedenken. Simon Stegemann schaut sich regelmäßig Überwachungsvideos von Schlägereien an und studiert die Körpersprache der Beteiligten. „Es ist spannend zu sehen, wie solche Situationen entstehen. Was passiert kurz vor dem ersten Schlag?”, fragt der Selbstverteidigungstrainer. Meist geht der Eskalation eine ganz bestimmte Bewegung voraus, hat er festgestellt.
Schlägereien ins Internet gestellt
Manchmal bekommt er Handyvideos von Schülern zugeschickt, die Schlägereien auf dem Schulhof zeigen und die in der Regel aus dem Internet stammen. „Das ist oft harter Tobak. Das muss man abkönnen.” Das kommt daher, dass Stegemann auch Kurse zur Gewaltprävention anbietet – an Grund- und Oberschulen sowie an Gymnasien in ganz Sachsen. Ab der zweiten Klasse vermittelt er dort Wissen zu unterschiedlichen Themen, etwa Selbstverteidigung, Gewalt, Deeskalation, Konfliktmanagement oder Mobbing. Mit den Lehrern bespricht er vorher, worauf der Fokus liegen soll und gestaltet jeden Workshop individuell.
Der Anti-Gewalt-Coach hat festgestellt, dass viele Schüler teils „krasse Grenzüberschreitungen” vornehmen, die ihnen gar nicht bewusst sind. „Wenn das jemand anzeigen würde, würde der Täter schwer bestraft werden.” Aus seinen Beobachtungen hat er sachsenweit drei „Klassiker” identifiziert, die in der 2. bis 12. Klasse vorkommen. Nummer eins: dem anderen ein Bein stellen, sodass das Opfer stolpert. Nummer zwei nennt Stegemann den „Nackenklatscher”. Dabei wird dem Opfer mit der Hand in den Nacken geschlagen. Bei beiden Übergriffen können sich Schüler schwer verletzen, macht er klar. Was er drittens immer wieder geschildert bekommt, ist der sogenannte „Arschbohrer“, bei dem ein Kind dem anderen den Daumen in den Po steckt. „Das finden die Schüler oft sehr witzig”, hat Stegemann festgestellt. Wenn er dann erklärt, dass es sich dabei um sexuelle Belästigung handelt, die vor Gericht bestraft werden würde, herrscht meistens Stille im Raum.
Sein Job sei „viel Aufklärungsarbeit”, so Stegemann. Teil des Präventionstrainings sei es aber auch, miteinander zu rangeln oder zu raufen. Dabei lernen die Schüler, wie man sich als Schwächerer wehren kann. „Da lasse ich die Kids ganz viel ausprobieren”, erklärt er. Alles unter Aufsicht und kontrolliert, betont er.
Was in seinen Workshops eine zunehmend größere Rolle spielt, ist das Thema Cyber-Mobbing. Viele Übergriffe landen im Internet. „Manchmal kann ich es selbst nicht fassen, was so alles in der Schule passiert”, sagt der Trainer. Gleichzeitig mache das auch den Reiz des Jobs aus: Simon Stegemann bekommt Einblicke, die ihm sonst verwehrt gewesen wären, die aber gleichzeitig verstörend sein können. „Man braucht ein dickes Fell”, sagt Stegemann und lächelt. Mit diesem Titel ist auch seine eigene Website überschrieben.
Als Ergotherapeut im Einsatz
Aktuell arbeitet Stegemann noch 20 Stunden in seinem ursprünglichen Beruf als Ergotherapeut in einer Praxis in Naunhof. Auch dort war er in der Vergangenheit mit tragischen Schicksalen konfrontiert, weil er unter anderem auf einer Intensivstation eingesetzt war. „Wenn man das abstreifen kann, kann man das andere auch aushalten”, sagt er. Nahe gehen ihm mitunter traumatische Berichte, die ihm die Teilnehmer seiner Selbstverteidigungskurse anvertrauen, dazu zählte etwa ein bewaffneter Überfall. Immer wieder kommen krasse Dinge zur Sprache.
Simon Stegemann hat in der Vergangenheit diverse Seminare zum Thema Selbstverteidigung besucht, um seine Trainerlizenz zu bekommen. Doch viele Methoden übernimmt der gebürtige Bornaer auch von seinem zweiten Steckenpferd – Karate. Historisch betrachtet sei diese Art der Kampfkunst schließlich darauf ausgelegt, sich selbst zu verteidigen. „Karate ist mein Fahrrad”, sagt Stegemann, der bereits zwei schwarze Gürtel erreicht hat. Er verknüpft die Karate-Bewegungen mit Krav Maga, einer Selbstverteidigungstechnik, die das israelische Militär entwickelt hat – die Prinzipien seien überall dieselben. Den Wehrdienst hat Stegemann seinerzeit verweigert, eine Waffe wollte er nie in der Hand haben. „Ich bin ein totaler Pazifist“, betont er. „Wenn es nicht sein muss, greife ich niemanden an.”
Seit 2007 ist Stegemann im Karate-Verein in Bad Lausick aktiv, vor einem Jahr hat er den Vereinsvorsitz übernommen. Seitdem hat sich dort viel getan. Stegemann organisiert Lehrgänge bei verschiedenen Gastdozenten, legt den Fokus in den Kursen auf Selbstverteidigung. Heute trainieren etwa 100 Mitglieder im Verein, darunter 50 Kinder, eine beachtliche Zahl. Seit Neuestem gibt es auch eine Gruppe, in der Karatebewegungen zu Musik trainiert werden. Stegemanns Frau schwitzt dort regelmäßig. Und sehr wahrscheinlich wird auch die dreijährige Tochter irgendwann auf der Matte stehen. Mit der Kleinen rangelt und rauft der Papa zu Hause öfter mal. Sie soll ihre Grenzen klar benennen und lernen, sich durchzusetzen, sagt er. Das ist Stegemann wichtig.
Über Langeweile kann der Familienvater im Alltag nicht klagen. Im Schnitt gibt er neben seinem Job als Ergotherapeut dreimal pro Woche Kurse in Selbstverteidigung oder Gewaltprävention. Dazu kommt das Training im Karateverein und noch ein weiteres Hobby muss er mit Frau und Kind in Einklang bringen: Er spielt Schlagzeug in der Bad Lausicker Punkrockband „Kapitän in Not”. Das Trommeln sei ähnlich wie Karate, sagt er: „Man ist voll in dem Moment.”
Und dann gibt es noch eine Leidenschaft, die Stegemanns ganze Familie vereint: das Fernweh. Gemeinsam mit seiner Frau hat er bereits 22 Länder bereist. Im vergangenen Jahr flog das Paar mit dem Töchterchen nach Indonesien, in diesem Jahr steht Sansibar auf der Liste. Ihr Ziel ist es, nach und nach die meisten Länder der Erde gesehen zu haben. Afrika und Südamerika sind bisher noch weitgehend weiße Flecken – doch das soll sich in naher Zukunft ändern. Gina Apitz
Weitere Infos unter: www.dickesfell.de