Seit 2020 ist Dr. Uta Bretschneider im Zeitgeschichtlichen Forum und sagt: „So langsam ist es inzwischen mein Haus geworden. Foto: André Kempner
Seit 2020 ist Dr. Uta Bretschneider im Zeitgeschichtlichen Forum und sagt: „So langsam ist es inzwischen mein Haus geworden. Foto: André Kempner

Am liebsten ist sie zwischen den Orten zu Hause – zwischen der Großstadt und dem Dorf, zwischen urbaner Geschäftigkeit und ländlicher Beschaulichkeit. Wobei Dr. Uta Bretschneider nur zu gut weiß um die Verfänglichkeit/Vergänglichkeit dieser klassischen Klischees: „Ich bin mit dem Hin und Her von Stadt und Dorf groß geworden. Deshalb weiß ich eines durchaus: Das Städtische vergisst die Provinz ganz gern mal – deshalb möchte ich verstärkt die Provinz in die Stadt holen.“

Das Gute an diesem Vorhaben: Als Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig hat sie auch die Möglichkeiten, diesen Austausch voranzutreiben. Mal ganz abgesehen davon, dass sie auch eine unbedingte Notwendigkeit erkennen kann. „Die Zeitgeschichte aus der Provinz kommt zu kurz, finde ich“, und die Leipziger Museumsdirektorin verweist auf das eigene Wissen und die eigene Erkenntnis, dass die Geschichte der Friedlichen Revolution in der Großstadt Leipzig doch ganz gut dokumentiert ist – was man von den Vorgängen in der Region nicht unbedingt behaupten kann. Da gibt es eine Menge aufzuarbeiten. Und es wird nicht weniger, die Zeitgeschichte dreht sich ja stetig weiter …

Seit 2020 in Leipzig tätig

Am 1. April 2020 hat Uta Bretschneider ihre neue Aufgabe in der Messestadt angetreten. Mittendrin in einer Zeit, die auch ihre ganz eigene historische Dimension hatte und an die sie sich noch gut erinnern kann. Eine Hand voll Tage vor dem Amtsantritt begann der erste Lockdown im Frühjahr 2020, deshalb fühle es sich überhaupt nicht nach beinahe vier Jahren an, sagt die Museumschefin nachdenklich. „Ich musste damals im Frühjahr vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie gewichtige Entscheidungen treffen, obwohl ich das Haus noch gar nicht kannte“, erinnert sie sich an eine durchaus sorgenvolle Zeit.

An vielen Stellen im Haus hat die Museumsdirektorin Uta Bretsch- neider schon ihre Handschrift hinterlassen – etwa mit neuen Be- gegnungs- und Veranstaltungsräumen. Foto: André Kempner
An vielen Stellen im Haus hat die Museumsdirektorin Uta Bretschneider schon ihre Handschrift hinterlassen – etwa mit neuen Begegnungs- und Veranstaltungsräumen. Foto: André Kempner

Auf der anderen Seite gab’s aber auch einen Punkt, der das Ankommen in Leipzig einfacher machte – der „Kulturschock“ beim Wechsel aus dem Südthüringischen in die Großstadt Leipzig fiel dann doch nicht so groß aus. Und auch wenn Uta Bretschneider die „Kennenlern-Tour“ durch die neue Heimatstadt zunächst verschieben musste, ist das Zeitgeschichtliche Forum „so langsam, aber sicher mein Haus geworden“ und auch die Vielfalt der Stadt Leipzig – mit so unterschiedlichen Stadtteilen wie Gohlis und Grünau – wirkt inzwischen vertraut.

Das Zeitgeschichtliche Forum ist in Bewegung

Eine gewisse, erste Befürchtung hat sich übrigens inzwischen auch gelegt. „Ehrlich gesagt habe ich bei meinem Amtsantritt zuerst gedacht: Dieses Haus ist ja perfekt. Aber mir wurde dann doch schnell klar, dass es noch viel zu tun gibt.“ Ihre Definition: Das Zeitgeschichtliche Forum ist ein Haus, das in Bewegung bleiben muss. Stichwort „Work in Progress“ und die eine Gewissheit: „Auch ein Museum darf zeigen, was noch nicht fertig ist.“

Vielleicht hat sie dieses Verständnis von einem Museum in stetiger Bewegung auch aus Kloster Veßra mitgebracht, dem kleinen Ort gleich neben Hildburghausen, der eine ganz wichtige Rolle in ihrem Leben spielt. Weil bei der studierten Kulturwissenschaftlerin genau hier, im Hennebergischen Museum in dem ehrwürdigen Prämonstratenerkloster die Leidenschaft für Museen geweckt wurde.

Die Ausstellung "Huts&Hymnen" ist derzeit im Zeitgeschichtliches Forum zu sehen. Foto: André Kempner
Die Ausstellung „Huts&Hymnen“ ist derzeit im Zeitgeschichtliches Forum zu sehen. Foto: André Kempner

2006 war das, bei einem Praktikum: „Damals habe ich mich in das Thema Neubauern in der DDR eingearbeitet – die kamen ja als Flüchtlinge und Vertriebene“, erzählt sie. Daraus wurde die Dissertation „Vom Ich zum Wir? Flüchtlinge und Vertriebene als Neubauern in der LPG“, die im Jahr 2016 erschienen ist – und mit dem Georg R. Schroubek-Dissertationspreis des Instituts für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München ausgezeichnet wurde.

Die Offenheiten in Kloster Veßra und Leipzig

Da war Uta Bretschneider schon Museumsdirektorin. In eben jenem Hennebergischen Museum Kloster Veßra, das nun mal in erster Linie ein Freilichtmuseum ist – mit allen entsprechenden Besonderheiten. „Manchmal hat mir das Hemdsärmlige und Zupackende von Kloster Veßra schon gefehlt“, überlegt sie: „In einem so kleinen Museum hat man einfach mehr Spielräume – da konnten wir zum Beispiel ein inklusives Café mit behinderten Menschen aufgebaut.“

Immerhin: Ein wenig von dem „magischen Ort“ Kloster Veßra hat sie auch in Leipzig gefunden: Die Idee der Niedrigschwelligkeit – die steckt ja beim Freilichtmuseum immer im Prinzip, „aber diese Offenheit hat für mich auch das Zeitgeschichtliche Forum durch den freien Eintritt“.

„Die Sicht auf die Themen ändert sich durch die Arbeit der Wissenschaft. Und ganz wichtig ist dabei für mich die Frage: Was prägt den Alltag der Menschen?“

Ein Pfund, mit dem es zu wuchern gilt. Und entsprechend formt sich das Haus nach der Bretschneider’schen Handschrift neu – mit einer überarbeiteten Dauerausstellung, in der die Zeitgeschichte fortgeschrieben wird. Und in der die Idee, verstärkt Debatten und Diskussionen zu fördern und zuzulassen, aufgegriffen wird auf unterschiedliche Art und Weise. Dabei verweist Uta Bretschneider auf die Zettel-Umfrage in der Ausstellung, die sich überraschender Beliebtheit erfreut – und auf das digitale Pendant zu den Ereignissen im Jahr 1989.

Wobei sie mit wissenschaftlichen Blick vor allem jene Zeit ins Auge nimmt, die nach der Friedlichen Revolution folgten. Weil sich da aus ihrer Sicht eine Lücke auftut, „wir brauchen zum Beispiel erst einmal einen Begriff für diese Epoche“. Und auch dies ist für sie ein Grund, das Haus in Bewegung zu halten: „Die Sicht auf die Themen ändert sich durch die Arbeit der Wissenschaft. Und ganz wichtig ist dabei für mich die Frage: Was prägt den Alltag der Menschen?

Die Antworten auf diese Frage zu finden ist für mich hochspannend.“ Gerade in herausfordernden Zeiten – ganz gleich, ob nach der Friedlichen Revolution sich für Millionen Menschen in kürzester Zeit das alltägliche Leben vollkommen veränderte. Oder ob in diesen Tagen Dinge wie die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg und der Nahost-Konflikt in den Alltag hineinwirken. Das Spannende dabei: Im überarbeiteten Teil der Dauerausstellung findet man Daten aus dem Lebensalltag, die in Echtzeit aktualisiert werden: „Auf diese Weise können wir den Besucherinnen und Besuchern gesellschaftliche Veränderungen nahe bringen.“

Neugier als Antrieb

Diese Neugier auf spannende Fragen und interessante Antworten treibt Uta Bretschneider schon immer an – vielleicht auch dank familiärer Prägung: „Wir waren schon sehr geschichtsbewußt – mein Vater als Bildhauer und meine Mutter als Kulturwissenschaftlerin, dazu noch ein Onkel als Archäologe. Das Museum als solches war für mich immer eine natürliche Sache.“ Diese Idee hat sie mit nach Leipzig genommen und auch im Zeitgeschichtlichen Museum wiedergefunden. „Ja, der freie Eintritt hat die Schwelle ein wenig gesenkt“, überlegt sie: „Damit haben wir die Chance, dass auch andere Menschen als die klassischen Museumsgänger ins Haus kommen.“

Um diese Schwelle vor dem Haus noch ein weiteres Stück niedriger zu machen und im besten Fall ganz verschwinden zu lassen, treibt sie als Museumsdirektorin der Prozess einer Öffnung weiter voran. Aus den „kalten und ungenutzten Ecken“ im Zeitgeschichtlichen Forum sind inzwischen auch baulich Orte der Begegnung und des ungezwungenen Miteinanders geworden, Platz für Veranstaltungen wurde geschaffen und die Zusammenarbeit mit Schulen und Kitas weiter befördert. „Ich finde es ganz wichtig, eine Botschaft an Kinder und Jugendliche zu senden: In einem Museum passiert mir nichts und ein Besuch kann sogar richtig Spaß machen.“

25. Geburtstag des Zeitgeschichtlichen Forums steht an

Dann sind da aber die Zukunftsthemen, die auch das Zeitgeschichtliche Forum im Verbund der Stiftung Haus der Geschichte der BRD herausfordern. „Das Analoge wird in einem Museum nie verschwinden – dafür ist die Aura der Objekte zu präsent. Aber inzwischen gibt es ganz viele Menschen, die uns im digitalen Raum wahrnehmen und auch das Thema Inklusion treibt uns an“, blickt die Museumsdirektorin voraus. Langweilig wird es auf keinen Fall … erst recht nicht, wenn man den 25. Geburtstag vom Zeitgeschichtlichen Forum in diesem Jahr mit einberechnet.

Und außerdem ist Uta Bretschneider auch leidenschaftlich gern Forscherin. Getrieben von einer Neugier auf den Alltag in all seinen, manchmal ganz besonderen Facetten. So soll es zur Leipziger Buchmesse erscheinen, ihr neues Buch verrät sie: „Ja, mir liegen die außergewöhnlichen Themen – also habe ich ein Buch über die Sexshops in der ostdeutschen Provinz geschrieben. Und dafür habe ich auch – quasi als Erfahrung in der Produktion – mal für eine Woche in einem Sexshop in Aschersleben gearbeitet.“ Neue Forschungsideen hat sie auch schon, vielleicht zu den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, auf die sie einst in Kloster Veßra gestoßen ist.

Die Erinnerung an die Ländliche DDR

Da ist es dann wieder, dieses Thema Stadt und Land. Inzwischen hat Uta Bretschneider auch in der neuen Heimat Leipzig den Fokus geweitet – auf die einstigen Braunkohletagebaue in Profen beispielsweise. Eine thematische Konferenz „Verschwundene Orte“ hat es bereits gegeben – Nachfolger sind zu erwarten, „der Bergbau ist ein in der Region schon sehr präsentes Thema“.

Dann überlegt sie zum Abschluss: „Ich komme aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Chemnitz und bin in Berlin aufgewachsen, ich kenne die beiden Perspektiven.“ Und sie ergänzt: „Für mich ist dies schon ein neues Baby in der Auseinandersetzung: Wie wird an die DDR im ländlichen Raum erinnert?“ Ist ja eben auch ein wichtiges Kapitel der Zeitgeschichte.

Jens Wagner

Infos: www.hdg.de/zeitgeschichtliches-forum

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