An die Premiere von „Peter und der Wolf“ im Oktober 1999 kann sich Wilfried Reach noch gut erinnern, an die Aufführung im Kulturhaus „Alfred Frank“ – vor allem bekannt als „Mätzschkers Festsäle“. „In diesem großen Haus stand die kleine Bühne“, erinnert sich der Puppenspieler und bekannte, vor dem ersten Vorhang „am ganzen Körper gezittert und geschlottert“ zu haben: „Das Stück war ja meine Idee!“ Nun, es wurde alles gut – so gut, dass er am Montagabend zur nunmehr 700. Vorstellung auf die Bühne vom Theater der Jungen Welt (TDJW) gebeten wurde.
Natürlich gehört zu einem solchen Jubiläum eine Torte und ein paar Stücke sind tags darauf sogar noch übrig. „Die ist ordentlich süß“, meint Wilfried Reach mit einem Lächeln, aber so eine Stärkung für Herz, Leib und Seele muss schon sein bei einem derartigen Jubiläum. Und er berichtet vom jungen Publikum, das auch beim 700. Mal mit Begeisterung dabei war, von der wunderbaren Stimmung im TDJW-Saal und davon, wie ihn diese wunderbare Stimmung immer wieder selbst beflügelt.
Man versteht in diesem Augenblick schnell, was Torsten Rose – seines Zeichens Betriebsdirektor der Musikalischen Komödie, an der Wilfried Reach mit „Peter und der Wolf“ gastiert, doch dazu später mehr – meinte mit seiner Frage: „Spielen Sie immer wie bei einer Premiere?“ Klar, die Antwort liegt für den Puppenspieler auf der Hand: „Natürlich! Ich verlange diese Energie von mir.“ Und nach einer Pause ergänzt er: „Wenn der Adrenalinstoß nicht mehr kommt, dann muss man es lassen.“ Die gute Nachricht: Davon ist nicht auszugehen …
Das Spielen steckt Einfach drin in der DNA
Weil auch das Spielen irgendwie drinsteckt in der DNA von Wilfried Reach – stellt der gebürtige Hallenser zumindest mit einem Blick auf die eigene Kindheit fest. Was nicht immer auf die Gegenliebe seiner Umgebung gestoßen ist: „Ach ja – ich habe mir Geschichten ausgedacht und diese dann mit voller Überzeugung erzählt. Meine Mutter meinte dann immer: Was redest Du denn da?“ Und mit einem versonnenen Lächeln ergänzt er: „Ich war ganz schön schnell als Spinner verschrien, auch wenn meine Schulkameraden meine Geschichten durchaus unterhaltsam fanden. Aber es stimmt schon: Ich habe als Kind ganz schön viel Mist gebaut.“
Immerhin findet der kleine Wilfried aus purem Zufall den passenden Kanal für den Spieltrieb und die blühende Fantasie – selbstverständlich auf den Brettern, die die Welt bedeuten.
Schon in der fünften Klasse kommt er zum Pioniertheater in Halle/Saale, was insofern eine bemerkenswerte Angelegenheit ist, „weil ich nie Pionier war“. Der kleine Junge aus der christlich geprägten Familie hält sich sorgsam fern von den sozialistischen Einflüssen („Auch wenn das nicht einfach war, schließlich wollte man ja dazugehören.“) und kommt trotzdem rauf auf die Theaterbühne. Mit seiner Leidenschaft, mit seiner Hingabe, mit seiner Fantasie überzeugt er auch beim damaligen Theater der Jungen Garde – an seine erste Premiere im russischen Stück „Sombrero“ erinnert er sich auch noch bestens: „Da waren alle total begeistert. Und so bin ich in die Schauspielkarriere gerutscht.“
Ende des Studiums an der Schauspielschule Berlin
Ganz so einfach ist die Sache dann doch nicht: Das System der DDR hat sicher seine Lücken – siehe der Nicht-Pionier am Pioniertheater – aber auch wenn die Mühlen manchmal langsam mahlen, mahlen sie doch häufig gründlich und nachhaltig. Ein junger Mann in der Jungen Gemeinde von Halle („Da haben sich nicht nur junge Christen getroffen, sondern auch junge Menschen, die sich einfach selbst verwirklichen wollten.“) wird argwöhnisch beäugt.
Gerade auch beim Studium an der Schauspielschule Berlin, das er schon nach einem Jahr gezwungenermaßen beenden musste: Verfolgung durch die Staatssicherheit, Verhaftungen, Freilassung, das ganz reale Misstrauen im persönlichen und künstlerischen Umfeld – von all dem kann Wilfried Reach erzählen.
Andererseits gehört es auch zu den Skurrilitäten der DDR, dass er trotzdem sein Diplom als Puppenspieler ablegen kann. Und trotzdem spielt am Puppentheater in Zwickau und dann in Chemnitz. „Im Puppenspiel kann man Dinge tun, die auf eine andere Art nicht machbar sind“, erzählt er mit einem verschmitzten Lächeln vom Reiz dieser Theatersparte: „Man lässt einfach die Puppe sprechen.“ Dieses Sich-Hinter-Der-Puppe-Verstecken-Spiel liebt Wilfried Reach bis zum heutigen Tag und er hat dafür auch die ideale Puppe – jene aus dem Stück „Der futurologische Kongress“, die ihm optisch bis ins Detail nachempfunden ist: „Damit trete ich immer noch gern auf – im Zwiegespräch: Das ist dann die absolute Improvisation und im besten Fall komme ich in einen echten Flow.“
Wieder ein Lächeln: „Allerdings muss man da ganz schön aufpassen, dass man sich nicht verliert.“ Irgendwann fällt dann ein ganz wichtiger Satz – einer, der auch zum Abschluss gewissermaßen als Überschrift steht. „Es geht um die Kunst!“ Um die Kunst des Puppenspiels, um genau zu sein.
1991 ging es ans Theater der Jungen Welt
Diese Leidenschaft, ja, auch dieses Sendungsbewusstsein hat ihn nach Leipzig gebracht, im Jahr 1991, ans Theater der Jungen Welt – weil die Messestadt irgendwie eine Wüste war in Sachen Puppenspiel. Mit ein paar vereinzelten Oasen, klar, aber ohne eine echte Theatersparte in diesem Segment. Es zählt zu den Verdiensten von Wilfried Reach, dass sich dies verändert hat – wobei sich diese neue TDJW-Sparte gewissermaßen als fruchtbarer Boden für eine bemerkenswerte Entwicklung erwies.
„Puppenspiel darf man nicht auf das Kasperletheater reduzieren – wobei ich ganz genau weiß, dass gerade Kasperletheater eine echte Herausforderung ist.“
Wie wichtig ihm genau diese Entwicklung ist, wird klar, wenn er mit Hochachtung, Respekt und unverhohlener Freude von Charlotte und Michael spricht. Von Charlotte Wilde und Michael Vogel, die einst ihre erste Inszenierung in Leipzig im TDJW-Zelt auf die Bühne brachten, und inzwischen mit dem Figurentheater Westflügel das Puppentheater nachhaltig in der Kunstszene der Messestadt verankert haben. „Ich finde es super, dass sie es geschafft haben, sich mit dem Westflügel dieses Standbein zu schaffen“, sagt er ohne eine Spur von Neid – dafür voller Freude über die Tatsache, dass sie als Wilde & Vogel zusammen mit anderen Ensembles wie Lehmann und Wenzel diese Form des Schauspiels auf eine ganz neue Ebene gehoben haben.
Unterwegs auf den echten Langstrecken
Denn auch dies ist Wilfried Reach – zur Erinnerung: „Es geht um die Kunst!“ – ganz wichtig: „Puppenspiel darf man nicht auf das Kasperletheater reduzieren – wobei ich ganz genau weiß, dass gerade Kasperletheater eine echte Herausforderung ist.“ Vom kindlichen Publikum mal ganz abgesehen, das man ganz flott verlieren könne. Es zählt zu den großen Qualitäten des Puppenspielers, immer wieder auf’s Neue zu fesseln und zu begeistern. Bei jeder einzelnen Vorstellung – und dies auf der absoluten Langstrecke. Da gibt es ja noch ein weiteres Stück, das auf dem besten Weg ist, „Peter und der Wolf“ den Rang in Sachen Aufführungen abzulaufen: Die „Geschichten vom kleinen König“ hat er schon rund 600 Mal auf die Puppenbühne gebracht, Tendenz deutlich steigend.
„Es wird immer wieder nachgefragt“, erzählt er und berichtet mit leuchtenden Augen von dem kleinen Kind, das weinend überhaupt nicht gehen wollte nach dem Ende der Vorstellung, bei dem der kleine König zu Bett geht: „Dann habe ich mitbekommen, dass es bis zum nächsten Morgen bleiben wollte, um auch den nächsten Tag mit dem kleinen König zu erleben. Wahnsinn, was so ein Stück erreichen kann.“
Gekommen, um zu bleiben: Ob dies wirklich der Plan war, als Wilfried Reach 1991 nach Leipzig kam? Gute Frage – offene Frage. Aber er ist geblieben, bis 2017 als TDJW-Ensemblemitglied: „Ich liebe dieses Haus, das mich immer wieder so herzlich aufgenommen hat.“ Und deshalb ist er dem Theater auch im Ruhestand treu geblieben: „Dieses Rentnerdasein wollte ich eigentlich nie haben. Das Puppenspiel hat mir immer Kraft und Halt gegeben – gerade auch in der schweren Zeit nach dem Tod meines Sohnes. Ich habe sofort wieder mit dem Spielen angefangen.“ Nach einer Pause ergänzt er leiser: „Und da hat es dann auch mit dem Glauben bei mir Klick gemacht.“
Die Ideale des humanistischen Glaubens
Ja, Wilfried Reach definiert sich als gläubiger Mensch – aber weniger im Sinne einer kirchlichen Bindung als eher einer Verpflichtung für die humanistischen Ideale des Christentums. An denen er festhält in schweren Zeiten in der Vergangenheit und in der Gegenwart. „Wir haben nach dem Bürgerkrieg in Bosnien gespielt und da habe ich vor Ort gesehen, was Krieg bedeutet. Und ich war zutiefst erschrocken, was sich Menschen gegenseitig antun können.“
Und so blickt er auch traurig nach Osten in die Ukraine. Oder in den Nahen Osten. Und bleibt trotzdem bei „Peter und der Wolf“ vom russischen Komponisten Sergej Prokofjew – weil es für ihn nicht um einen Kampf gegen russische Kultur geht: „Man muss dies von der Politik trennen“, sagt er ohne einen winzigen Funken der Relativierung des russischen Angriffskrieges. Dafür mit der ungebrochenen Hoffnung auf Gemeinsamkeiten und eine auch eine Versöhnung nicht nur im Osten Europas: „Manchmal hilft der Rückblick auf den Herbst 1989: Da haben wir es auch geschafft.“
Puppen für „Über Bethlehem ein Stern“ ausgewählt
Für den gläubigen Menschen Wilfried Reach ist es in dieser vorweihnachtlichen Zeit eine besondere Freude, die Puppen für „Über Bethlehem ein Stern“ herauszusuchen. Auch so ein Stück mit Langzeitqualitäten: 1992 erlebte es seine Premiere, geschrieben von Dietmar Müller und inszeniert in einer wundervollen Kulisse. „Außerdem sind die Figuren toll gemacht – und sie wurden jetzt aufgebessert. Und es ist ein Stück, das einen als Puppenspieler komplett fordert: Du hast diese Figur, der man sich annähern muss und im besten Fall wird sie ein Teil von dir.“
Das Einfache, das so schwer zu machen ist – weil es auch Puppen gibt, bei denen dieses nicht funktioniert. Eine ganz spezielle möchte Wilfried Reach nicht mal mehr sehen. Und manchmal funktionieren Inszenierungen auch im Puppentheater einfach nicht – wie damals die „Dreigroschenoper“. „War aber auch richtig schwer im Zusammenspiel mit der Musik, mit dem Brecht’schen Text, auch mit der Arbeit mit Schauspielern, die keine Erfahrung im Puppenspiel haben“, blickt er zurück: „Wobei ich aber nicht sagen würde, dass die Inszenierung gescheitert ist – sie hat einfach nicht so funktioniert, wie wir uns es vorgestellt haben.“
Diese Momente der Fehler, vielleicht auch des Scheiterns gehören dazu. Klarer Fall für Wilfried Reach – davon ist auch Rekordhalter „Peter und der Wolf“ nicht gefeit. Nur zu gut weiß er noch, wie er zu den Classic Open auf dem Leipziger Markt stand mit seiner kleinen Bühne; mit Puppen, aber ohne Musik vom Band: „Oh Mann, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Also habe ich angefangen, die Instrumente selbst zu singen in meiner Not. Zum Glück kam der Ton dann wieder …“
„Das war ein einschneidendes Erlebnis“
Das Stichwort Ton ist ein gutes: Denn „Peter und der Wolf“ hat sich mit den Jahren verändert und im Jahr 2022 noch einmal ganz besonders. Womit die eingangs erwähnte Musikalische Komödie ins Spiel kommt, die ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Endlich mit einem Orchester zusammenspielen! „Das erste Mal war echt ein einschneidendes Erlebnis“, sagt er und freut sich schon darauf, bald wieder in der MuKo zu stehen – die Puppen sind schon auf dem (kurzen) Weg vom TDJW. Und es ist ein Beleg für die Zeitlosigkeit des Puppenspiels von Wilfried Reach, dass die angesetzten Aufführungen längst ausverkauft sind – ebenso wie zwei der drei Termine vom Stern über Bethlehem im TDJW. Jens Wagner
Infos zu den Stücken: www.tdjw.de