Es ist eine diffuse Angst vor dem Wasser, die Jan überfällt, wann er immer er sich dem Meer nähert. Dass das beklemmende Gefühl mit einem Trauma in seiner eigenen Familie zusammenhängt, wird ihm erst später klar. Dann, als der Protagonist der Geschichte erfährt, dass er zu DDR-Zeiten zwangsadoptiert wurde – was seine Adoptivmutter ihm bis zu ihrem Tod verheimlichte.
„Wellenkinder” heißt der neue Roman der Autorin Claudia Rikl, der im August im Ullstein-Verlag erschienen ist. Veröffentlicht hat die Leipzigerin ihn allerdings unter ihrem Pseudonym „Liv Marie Bahrow”. Grund für den neuen Namen ist der Genrewechsel: Die 50-Jährige schrieb bereits zwei Kriminalromane. Nun wollte sie bei ihrem ersten Familienroman einen neuen Anfang setzen. „Vom Gefühl her ist es sehr angenehm, man hat so eine kleine Distanz.” Immerhin sei sie als Autorin verletzlich und angreifbar. „Liv Marie Bahrow – das bin ich mit einem kleinen Schutzmantel drumherum.” Der Name soll weiblich klingen, aber auch stark, außerdem mecklenburgisch, weil die Geschichte dort verortet ist.
Roman war zuerst als Krimi gedacht
Das Interessante dabei: „Wellenkinder” war ursprünglich als Krimi geplant, ein neuer Fall für Rikls Kommissar Herzberg. „Doch während des Schreibens hab ich gemerkt, so richtig reizen mich Ermittlerfiguren und Ermittlungsarbeit nicht mehr.” Das innere Drama des Kommissars sei auserzählt gewesen. Rikl merkte, dass es Zeit für etwas Neues wurde. Die Geschichte handelt von zwei Müttern und einem Kind, Jan, der erst als Erwachsener von seiner Zwangsadoption zu DDR-Zeiten erfährt. Für den Stoff recherchierte Claudia Rikl, wie Gefängnisaufenthalte in der DDR aussahen, schaute sich Dokumentationen an, besuchte das ehemalige Stasi-Gefängnis in Bautzen.
„Wahrscheinlich habe ich viel menschliches Leid beobachtet und aufgesogen.“
Ihre drei Hauptfiguren entwickelte die Autorin nach und nach. Da ist zum einen Oda, die mit ihrem Freund durch die Ostsee aus der DDR in die Freiheit schwimmen will. Beide werden von den Grenzern gefasst. Oda landet im Frauengefängnis in Hoheneck, wo sie bemerkt, dass sie schwanger ist. Die Ausreise in die BRD gelingt ihr schließlich, doch ihr Kind behält die Staatsmacht – und gibt es zur Adoption frei.
Zwei Frauen und die Liebe zu ihrem Kind
„Ich hatte soviel Empathie für diese Figur, dass ich aus ihrer Seele heraus sehr leicht schreiben konnte”, sagt Claudia Rikl. Erst im Anschluss kam die Figur der Margit dazu, eine Frau, die fest an den Sozialismus glaubt, jene Adoptivmutter, bei der Jan aufwächst. „Erst dann war es vollständig, das ist der heiße, glühende Kern der Geschichte: zwei Frauen und die Liebe zu ihrem Kind”, sagt Claudia Rikl.
Der Stoff ist frei erfunden, ihm liegt keine wahre Begebenheit zu Grunde – auch wenn es viele DDR-Fluchtgeschichten über die Ostsee gab. Rikls Roman ist jedoch keine reine Opfergeschichte. Dadurch, dass er auch die Perspektive der Margit ausführlich beleuchtet, wird die Story nicht in Schwarz-Weiß erzählt. Auch mit Jans Adoptivmutter hat der Leser unweigerlich Sympathien. „Ich respektiere die Lebensleistung dieser Menschen und will nicht nur die Opferperspektive erzählen”, betont die Autorin.
DDR-Themen in Büchern verarbeitet
Auch Rikls beide Krimis – in einem geht es um den Mord an einem NVA-Major – greifen Themen aus der DDR-Vergangenheit auf. „Das war die Lebensrealität meiner Eltern und Großeltern und auch meine”, erklärt die gebürtige Naumburgerin. Als Ost und West wiedervereinigt werden, ist Rikl 16 Jahre alt. „Wahrscheinlich habe ich viel menschliches Leid beobachtet und aufgesogen.” Die Autorin findet: „Die Aufarbeitung der DDR-Themen kommt so langsam in Gang.” Auch wenn die Handlung des Romans frei erfunden ist, war das Thema der Zwangsadoptionen Realität in der DDR. Schätzungsweise 2000 Kinder wurden gegen den Willen der Eltern zur Adoption frei- gegeben.
Der Asozialen-Paragraf etwa untersagte so genannte Arbeitsbummelei. „Wer sich nicht politisch angepasst verhielt oder nicht zur Arbeit ging, dem konnte man recht schnell die Kinder wegnehmen”, sagt Claudia Rikl. „Das kam immer wieder vor und hat viel Leid verursacht.“Die Dunkelziffer der zwangsdoptierten Kinder in der DDR dürfte deutlich höher liegen, denn viele von ihnen haben von ihrem Schicksal auch nach der Wende nie erfahren.
Letztlich, betont sie, schreibe sie aber über die Themen, die sie beschäftigen. Das sei sowohl die DDR-Vergangenheit als auch das Mutter-Thema generell. Rikl hat selbst drei erwachsene Kinder. Als sich der zweite Nachwuchs ankündigte, stieg die studierte Juristin aus ihrem Job aus. Sie merkte, dass sie in dem Beruf nicht glücklich war. „Die Juristerei hat mir keinen Spaß gemacht.” Als sie sich mit 18 für ein Jura-Studium entschied, war das „eine Vernunftentscheidung”. Damals wäre die junge Frau nicht auf die Idee gekommen, Schriftstellerin zu werden. „Künstlerische Berufe waren in meinem Weltbild nicht vorhanden.” Dabei schlummert ein gewisses schreiberisches Talent in Rikls Familie. Ihr Großvater, von Beruf Lehrer, hat ein Kriegstagebuch geschrieben, was die Enkelin mit großem Interesse las.
Studium der Literaturwissenschaft
Nach ihrem Ausstieg aus dem Job schrieb sich Claudia Rikl an der Fernuni Hagen für Literaturwissenschaft ein, las schon während des Studiums zahlreiche Bücher über kreatives Schreiben und übte das Gelernte. 2015 veröffentlichte sie ihren ersten Kriminalroman. Ihr Mann unterstützte sie in ihrem Vorhaben. Das Manuskript verkaufte sich gut. Heute sagt die Schriftstellerin, dass das Genre ein guter Einstieg war, weil es „relativ klar strukturiert” ist. Für einen Krimi gebe es einen konkreten Fahrplan, der falsche Fährten integriert. „Daran kann man sich schön entlanghangeln”, sagt Rikl. „Man kann sich von Tatsachen leiten lassen beim Schreiben.” 2019 veröffentlichte die Autorin ihren zweiten Kriminalfall und nun der neue Roman.
Leben als Schriftstellerin hat Höhen und Tiefen
Heute kann sie vom Schreiben leben – und hat sich damit einen Traum erfüllt. Doch Rikl gibt zu: Das Leben als Schriftstellerin habe seine Höhen und Tiefen. „Das Schönste, aber auch das Schwierigste an dem Beruf ist das Allein-Sein.” Rikl hat keinen Chef, ist nur sich selbst verpflichtet, aber sie hat auch niemanden, der ihr über die Schulter guckt und mögliche Fehler erkennt. Deshalb sei das Feedback von befreundeten Kollegen so wichtig, sagt sie. „Zweifel begleiten mich immer.”
Wenn die Autorin sich an ein neues Thema heranwagt, geht sie sehr strukturiert vor. Die erste Idee baut sie weiter aus, dann überlegt sie eine Struktur für die Handlung, durchdenkt diese von Anfang bis Ende. Wichtig sei es zudem, die Figuren sinnvoll zu charakterisieren – sich Aussehen, sozialen Hintergrund und psychologische Aspekte zu überlegen. Dabei solle man nicht auf eine Eingebung warten, sondern einfach starten. „Schreiben ist Büroalltag”, sagt die Autorin klipp und klar. „Vieles ist Handwerk.” Techniken, wie ein guter Text entsteht, gibt sie inzwischen auch in Schreibkursen an der Volkshochschule weiter. Dafür hat Rikl eine Weiterbildung an der Technischen Universität Darmstadt zur Schreibberaterin gemacht. Ihren Schülerinnen und Schülern bringt sie bei, wie klassisches Storytelling funktioniert.
Mitfühlen mit den Figuren
Zugegeben: Ein wenig Talent und Wortgewandtheit bringt Claudia Rikl außerdem mit. „Das Mitfühlen mit den Figuren ist es, was für mich gutes Schreiben ausmacht”, sagt sie über sich. Was ihr dabei hilft: Sich von Orten, wo die Handlung spielt, selbst einen Eindruck zu verschaffen, „die Geräusche und Gerüche wahrzunehmen”.
So wird die Autorin es auch bei ihrem nächstem Buchprojekt machen. Diesmal wagt sie sich an einen Teil der eigenen Familiengeschichte. „Meine Mutter ist Sudetendeutsche und wurde als Kleinkind mit ihren Eltern aus Tschechien vertrieben”, erzählt Rikl. Diese Fluchtgeschichte will sie aufgreifen und dafür auch die Region im Nachbarland besuchen, aus der ihre Mutter ursprünglich stammt. In einem eigenen Blog auf ihrer Website begleitet sie die Entstehung des Romans, thematisiert dort auch auftretende Probleme beim Schreiben.
Nebenher geht es jetzt im Herbst aber zunächst um die Vermarktung ihres aktuellen Romans – einige Lesungen stehen an. Ein neues Buch habe nur einige Monate Zeit, eine große Leserschaft zu gewinnen, sagt Rikl. Dann verschwinde es wieder von der Bildfläche – „und man hat Jahre reingesteckt”. Da klingt dieser Satz der Autorin nur logisch: „Ich liebe das Schreiben an sich. Ich tue es nicht für den Erfolg.” Gina Apitz
Am 24. Oktober liest Claudia Rikl in der Leipziger Stadtbibliothek aus ihrem neuen Roman „Wellenkinder”. www.liv-marie-bahrow.de