Schriftsteller, Hörbuchsprecher, Poetry Slammer – auf Jan Lindner passen viele Attribute. Doch das Hörformat ist es, was derzeit dominiert. Seine Auftritte auf Lesebühnen hat der Leipziger etwas zurückgefahren. „Ich hatte die Lust verloren, aufzutreten”, gibt Lindner zu. Außerdem gefiel ihm die Konkurrenzsituation des Poetry Slams nicht. Und dann kam Corona. Lesungen wurden allerorts abgesagt; der Autor durfte nicht mehr auf die Bühne. „Ich hatte ein bisschen ein Gefühl der Erleichterung”, sagt der 37-Jährige über diese Zeit.
Während der Lockdowns entdeckte er seine Leidenschaft für Hörbücher und Podcasts – und wurde auf dem Feld selbst aktiv. Aktuell bespielt er zwei Hörbuchkanäle auf Youtube: Auf dem einen veröffentlicht er jeden Sonntag einen neuen, selbst eingesprochenen Literaturklassiker oder ein Märchen. Der Stoff reicht von Kafka bis zu den Gebrüdern Grimm. In der Coronazeit kam ein zweiter Kanal dazu, auf dem er Gruselgeschichten erzählt und der unter der Überschrift „Creepy Pasta” („gruselige Nudeln”) firmiert. Eine kleine Gruppe von Hobbyautoren denkt sich diese Horrorgeschichten aus. Sprecher wie Jan Lindner vertonen deren Storys.
Gruselgeschichten für eigenen Youtube-Kanal
Derzeit textet Lindner an einer eigenen Gruselgeschichte für den Kanal. Die Handlung spielt auf einem Campingplatz – ein Thema, das sich die Community zuvor gewünscht hatte. Vier Jugendliche campen wild und werden von einem unheimlichen Bauern angequatscht, einer von ihnen wird am Ende von einem Trecker überfahren – so ungefähr lautet der Plot.
Wenn die Geschichte rund ist, sucht Jan Lindner nach Sprechern, die das Ganze vertonen. Dafür nutzt er sein Netzwerk, lädt für die Produktion in sein improvisiertes Tonstudio ins eigene Wohnzimmer ein. Von seinem Hochbett hängen diverse Decken herab und bilden „eine Art schalldichte Duschkabine”. Drinnen befinden sich Mikrofon und Laptop – fertig ist das Tonstudio. „Der Sound ist sehr gut”, sagt er. Auch für sein aktuelles Projekt verbringt Lindner viel Zeit unter den Decken.
Er ist dabei, das selbst geschriebene Theaterstück „Romeo und Julia reanimiert” zu vertonen. An der Parodie auf das Original tüftelte der Autor viele Monate. Entstanden ist eine witzige Variante des Klassikers, die um ein vielfaches allgemeinverständlicher ist als das Original. Lindners Fassung soll vor allem ein junges Publikum begeistern und ihnen den Zugang zu dem schweren Stoff erleichtern.
Der Leipziger Verlag Brimborium brachte das Theaterstück 2021 als Buch heraus. 16 verschiedene Sprecher sind nun dabei, aus dem Material ein Hörbuch zu machen. Lindner selbst mimt den Erzähler und produziert das Stück. 2,5 Stunden Hörgenuss verspricht er, die gegen Ende des Jahres fertig sein sollen. Auf große Soundeffekte will der Autor verzichten, „weil die verschiedenen Erzähler schon genügend Dynamik in die Geschichte bringen werden”.
Eigene Geschichte als Theaterstück
Sein großer Wunsch ist es, das Stück mal auf eine Theaterbühne zu bringen. Lindner hatte sogar schon eine Anfrage einer Regisseurin vom Staatsschauspiel Dresden, doch die hatte sich dann wieder zerschlagen. „Es sind 16 Personen zu besetzen, da muss man einiges an Budget auffahren”, überlegt Lindner. Doch vielleicht findet sich in Leipzig ein Regisseur, der sein Stück uraufführen will. Es wäre ein großer Traum.
Mit seinem Vier-Personen-Stück „Dr. Zargota” hat das bereits geklappt. Die Story über einen durchgeknallten Psychologen und seine Patienten brachte das Theaterpack 2019 auf die Bühne. „Es ist toll, den eigenen Text von Schauspielern umgesetzt zu sehen.”
Immerhin steckt viel Leidenschaft und Kreativität in Lindners Texten. Was das Schreiben angeht, ist der Autor sehr diszipliniert. Ein typischer „Schreibtag” beginnt für ihn gegen 8 oder 9 Uhr morgens – oft arbeitet er bis 20 Uhr an seinem Text. „Autor ist ein sehr einsamer Job”, sagt Lindner, betont aber gleichzeitig, dass er sich ja bewusst dafür entschieden habe.
Ein Hobby gegen die Einsamkeit
Trotzdem überlegt der Leipziger aktuell, sich noch ein Hobby zu suchen, um seine sozialen Kontakte nicht zu vernachlässigen. Vielleicht in einem Verein Fußball oder Volleyball spielen – das könnte er sich vorstellen. Man muss wissen: Jan Lindner hat erst kürzlich seinen Halbtagsjob als Werbetexter gekündigt. Neun Jahre lang waren diese Einkünfte seine Basis. Doch nun konzentriert er sich voll und ganz auf seine eigenen kreativen Projekte.
Er kann von den Hörbüchern, die er auf Youtube, Spotify und anderen Podcastplattformen publiziert, inzwischen ganz gut leben. Vor seinen Geschichten wird Werbung geschaltet. Je mehr Abrufe, desto mehr Geld verdient er. 350 000 Streams im Monat hatte er zuletzt bei Youtube und Spotify. Das rechnet sich.
Dass er eines Tages vom Schreiben leben kann, hätte sich Lindner vor einigen Jahren noch nicht vorstellen können. Dass er mal etwas Kreatives tun wird, dagegen schon. Es verwundert allerdings, dass der gebürtige Jenenser nicht einen musikalischen Weg eingeschlagen hat. Lindners Vater spielt Keyboard und „alle möglichen Blasinstrumente” in einer Coverband. „Er ist sehr kreativ und war auch in vielen Bereichen ein Vorbild für mich.” Seine Mutter spielt Klavier, die Oma war Musiklehrerin, der Opa Direktor einer Musikschule in Berlin.
Jan Lindner soll als Kind Klavier lernen, aber es liegt ihm nicht. In der 3. Klasse bricht er den Unterricht ab und erklärt seinen Eltern unter Tränen: „Ich bin nicht talentiert genug.” Mit 18 setzt er sich mal wieder ans Klavier an seiner Mutter, schreibt sogar eigene Songs. Doch das Interesse verliert sich wieder. Auch sein eineinhalb Jahre jüngerer Bruder ist unmusikalisch, dafür aber Experte im IT-Bereich.
Philosophiestudium in Leipzig
Nach dem Abi absolviert Jan Lindner seinen Zivildienst in einer Behindertenschule und zieht 2006 für sein Philosophiestudium nach Leipzig. Für Psychologie – seine erste Wahl – reicht seinen Notendurchschnitt nicht. Er schließt das Studium 2010 mit einem Bachelor ab – und ist erstmal arbeitslos. Das Jobcenter vermittelt ihm eine Stelle als Sozialassistent in einem Leipziger Suchtzentrum. Zweieinhalb Jahre lang arbeitet er mit Alkoholikern, versucht ihr Leben wieder in die richtige Bahn zu lenken.
Heute sagt Lindner: „Es war spannend, solche Extreme bei Menschen zu sehen.” Einmal fand er einen Toten, der schon aufgedunsen war. Lindner sagt, er habe die Schicksale „nicht mit nach Hause genommen”. Dann kommt der Halbtagsjob als Werbetexter. Wichtig ist ihm dabei stets eines: „Ich brauchte Zeit, um nebenbei zu schreiben.”
Ursprünglich – mit Anfang 20 – sind es vor allem Gedichte, die er zu Papier bringt. „Da komme ich her”, sagt er rückblickend. Die Poesie wie auch seine anderen Texte spiegeln jeweils seine aktuelle Gefühlslage wider, sagt er. Das Schreiben sei deshalb auch etwas Therapeutisches. „Wenn ich schreiben kann, bin ich glücklich.” Ist ein Projekt abgeschlossen, falle er manchmal in ein kleines Loch, sagt der Autor. Und es gab auch schon Texte, die bei denen ihm das Schreiben keine Spaß gemacht hat. „Ich hab mich dann da durchgeprügelt, aber hab gemerkt, das war es nicht.” Heute würde er solche Projekte abbrechen.
Horrortheaterstück in Planung
Und wie sehen die aktuellen Pläne aus? Jan Lindner will weitere Theaterstücke zu schreiben, vielleicht noch mal einen Klassiker umschreiben, diesmal aber nicht unbedingt in Reimform. Vorstellen könnte er sich auch ein Horrortheaterstück. Und ein, zwei Kinderbücher warten auch noch auf einen Illustrator und eine Veröffentlichung, verrät er. Und weil Jan Lindner sehr ehrlich ist, sagt er: „Ich bin noch nicht bereit für einen Roman.” Die Königsdisziplin sei schon eine „krasse Herausforderung”. Doch irgendwann einmal will er sich auch daran versuchen.
Bis dahin bleibt es bei Kurzgeschichten, Hörbüchern oder Novellen. Und ab und an zieht es Lindner dann doch auch mal auf eine Bühne. Zum Beispiel, wenn er die Lesebühne Pinzette versus Kneifzange im Keller des Beyerhaus moderiert. Dabei treffen etablierte Autoren auf Anfänger – der Austausch ist ihm wichtig. Es wird kein Gewinner gekürt, weil er das Konkurrenz-Prinzip, wie beschrieben, nicht mag.
Kürzlich hat der Autor auch einen für ihn ungewöhnlichen Auftrag angenommen: Auf einer Frauentagsfeier in der Bibliothek in Neukieritzsch trat er als Poet auf – und erheiterte die Damen mit lustigen Texten aus seiner Feder. Ja, sagt Lindner, sowas mache er auch manchmal. Das sei aber eine Ausnahme.
Die Lesebühne Pinzette versus Kneifzange veranstaltet am 27. April, ab 19.30 Uhr ein Buchmesse-Spezial. Los geht’s 20 Uhr im Beyerhaus. Der Eintritt kostet 6 Euro, ermäßigt 4 Euro.
Weitere Infos zu Jan Lindner unter: https://www.jan-lindner.de
Gina Apitz