Leipzig. Einen nahezu bis auf den letzten Platz gefüllten Oberlichtsaal, den habe man selten, stellte Steffen Birnbaum, Vorsitzender des Landesverbandes Sachsen im Verband deutscher Schriftsteller (VS), mit Blick ins Auditorium erfreut fest. Im Publikum, das hier unterm Dach der Stadtbibliothek am vergangenen Dienstagabend Platz genommen hatte, waren zahlreiche bekannte Gesichter zu entdecken: unter anderen Schauspielhaus-Ehrenmitglied Friedhelm Eberle, „Funzel“-Chef und TV-Tierpfleger Thorsten Wolf, „In aller Freundschaft“-Star Michael Trischan, Fernsehjournalistin Kamilla Senjo, Leipzigs Stadtpräsident a.D. und Superintendent i.R. Friedrich Magirius, die Vizepräsidentin des Deutschen Kulturrats, Schriftstellerin Regine Möbius, Leipzigs ehemalige Kulturamtsleiterin Susanne Kucharski-Huniat, Kabarettist, Autor und Radio-Mann Karsten Pietsch. Darüber hinaus viele weitere Freunde, Bekannte. Tochter und Enkelsohn waren extra aus Berlin angereist.
Sie und die vielen anderen Besucherinnen und Besucher waren gekommen, um der Buchpremiere des jüngsten und zugleich ältesten Mitglieds im Verband deutscher Schriftsteller beizuwohnen: Traudel Thalheim. 91-jährig war sie im vergangenen Herbst dem Verband beigetreten. Just am 24. November, dem Geburtstag Werner Heiduczeks, mit dem sie 18 erfüllte, gemeinsame Jahre verbrachte. Diese Zeitspanne hat die Journalistin und langjährige Kolumnistin der Leipziger Rundschau nun in Rückblenden, Anekdoten und bebilderten Erinnerungen zwischen zwei Buchdeckeln gebündelt. „421 Schritte von mir zu dir“ lautet der Titel, anspielend auf die fußläufige Nähe beider Wohnungen. Erschienen ist der 120-seitige Band im Mitteldeutschen Verlag, der schon Heiduczeks schriftstellerische Heimat war und im Herbst eine Neuauflage seines Romans „Abschied von den Engeln“ herausbringt. Verlagschef Roman Pliske, der die Autorin sehr in ihrem Buchprojekt bestärkt hatte, war eigens zur Premiere mit einem Schwung druckfrischer Exemplare aus Halle herübergekommen. Eines nimmt die Urheberin zur Hand, und aufmerksam lauscht der Saal den nun vorgetragenen Textpassagen, die Einblicke in das Leben zweier überaus verschiedener Menschen gewähren – der eine kontaktfreudig, der andere eher zurückgezogen – , denen es glückte, nach dem Verlust der Ehepartner gemeinsam die Lebensfreude bis ins hohe Alter zurückzugewinnen. Gekrönt von einer Schiffsreise rund um den Globus und von einer „wunderbaren Harmonie“. Diese erfreuliche Entwicklung war nach dem ersten Zusammentreffen wahrlich nicht vorauszusehen. All das kann nun nachgelesen werden.
Ebenso großes Interesse finden am Buchpremierenabend Traudel Thalheims Erinnerungen aus 70 Berufsjahren. „Du bist die älteste Journalistin, die ich kenne“, stellt Hans-Werner Honert, neben ihr auf dem Podium sitzend, fest. Der Filmregisseur, Produzent, „In aller Freundschaft“-Erfinder und Moderator dieses Abends fragt nach ihrem ersten Schriftstück. Und sie braucht nicht lange überlegen. Jahrzehnte zurückliegende Begebenheiten sind ihr so präsent, als hätten sich diese erst vor Kurzem ereignet: Ihr erster LVZ-Artikel über die erste Bananenernte im Botanischen Garten, die Müttern in der Frauenklinik zugute kam. Die Begegnung mit Bertolt Brecht Anfang der 50er-Jahre, die ihr eine schlaflose und lektürereiche Nacht bescherte. Die Interviewtermine mit der Knef, mit Costa Cordalis, der ihr ein Geburtstagslied auf CD widmete, mit Inge Meisel, mit dem 100-jährigen Johannes Heesters. „Damals fragte ich ihn: ,Wie machen Sie das, damit Sie so fit bleiben?’ Wenn ich heute darüber nachdenke, mache ich es genauso.“ Amüsiert ist das Publikum, wenn sie ihre Schwierigkeiten, beispielsweise mit nuschelnden Promis wie James Last oder Udo Lindenberg, schildert. Oder mit einem waschechten Prinzen, für den sie Hofknicks und Etikette einstudiert (was Albert reichlich albern fand).
Musikalisch umrahmt wurde der überaus kurzweilige Abend von Konzertsängerin Alexandra Röseler, am Flügel begleitet von Philipp Petter. Unter anderem stimmt sie das von Günter Neubert komponierte Liebeslied an, die Vertonung eines Textes aus der Feder Heiduczeks, die der Komponist dem Dichter zu dessen 80. Geburtstag zum Geschenk machte.
Nach reichlich zwei Stunden dankt Traudel Thalheim fürs aufmerksame Zuhören, verblüfft, dass sie nach den zahlreichen coronabedingten Absagen dennoch einen gut gefüllten Saal vorgefunden habe. Und freimütig räumt sie ein: Auch im zehnten Lebensjahrzehnt ist keiner vor Lampenfieber gefeit. Jetzt, am Ende der Veranstaltung, sei aber alles wieder gut. Sagt’s und greift zum Stift – diesmal aber, um Bücher zu signieren. Heiko Betat