Der Leipziger Autor Ralph Grüneberger hat einen neuen Wenderoman veröffentlicht. Foto: Christian Modla

Leipzig. Wenn man Ralph Grünbergers derzeitige Grundstimmung beschreiben will, trifft wohl das Wort „ernüchtert” ganz gut. „Ich hab das Pech, dass drei Bücher zu drei ausgefallenen Buchmessen erschienen sind”, sagt der Leipziger Schriftsteller. Der Seufzer liegt unüberhörbar in der Luft. „Herbstjahr”, „Leipziger Geschichten” und „Lisa, siebzehn, alleinerzogen”, heißen die neuesten Werke, die der 71-Jährige jüngst im Gmeiner-Verlag veröffentlicht hat – und die jetzt in den Regalen verstauben. Resonanz und Verkauf seien deutlich geringer gewesen als sonst. Kein Wunder. 2020 waren viele Buchhandlungen geschlossen. Auf eine Saison folgt die nächste. „Und schnell sind die Bücher wieder aus dem Gedächtnis”, sagt Grüneberger.

Dass die Buchmesse nun das dritte Jahr in Folge nicht stattfindet, sei für ihn – wie für viele seiner Kollegen – ein „harter Schlag” gewesen. „Als Leipziger Autor bin ich sehr mit der Messe verbunden.” Gern hätte er seine neuesten Werke dort vorgestellt. Nun gibt es zumindest eine Lesung in einem Leipziger Café. Und ansonsten hofft Grüneberger auf Mundpropaganda, die den Absatz ein bisschen nach oben treibt. Vielleicht.

Seine drei jüngsten Werke spielen – zum größten Teil – in den bewegten Wendejahren. „Lisa, siebzehn, alleinerzogen” handelt von der Leipziger Schülerin Lisa, deren Vater aus der DDR flieht, als sie vier Jahre alt ist und die nun – nach 1990 – die Chance bekommt, ihn wiederzusehen. Den Stoff für den Roman hatte Grüneberger schon seit 2006 in der Schublade. Ursprüngliche war die Geschichte kürzer und eher als Jugendroman angelegt. Während der Corona-Pandemie forderte ihn seine Frau auf, sich doch mal um sein Archiv zu kümmern. Da entdeckte er das Manuskript wieder. „Ich war damals nicht so richtig glücklich, es war noch nicht so rund”, sagt er.

Also überarbeitete Grüneberger seinen Roman ein ganzes Jahr lang und krempelte die Story komplett um. „Für Lisa beginnt das Schuljahr in der DDR und endet in der Bundesrepublik – das war das Besondere dieser Situation”, fasst er zusammen. Es ist etwas, was er selbst in der Familie erlebt hat. „Für die Schüler war dann nichts mehr wie es war und das wollte ich versuchen, zu beschreiben.” Der Betrieb von Lisas Mutter wird von der Treuhand verkauft, die Belegschaft fast komplett entlassen. So entstanden die typischen Wendebiografien. Grünebergers Roman ist aber mehr als eine Wendegeschichte. Er ist auch eine Art Familienchronik, die bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückreicht und die Stränge der Mutter und der Großeltern von Lisa verfolgt. Lisas Großvater geriet nach 1945 in sowjetische Gefangenschaft. Dieser Teil des Romans basiert auf Recherchen von Opferberichten Betroffener und ist gleichzeitig ein Stück weit autobiografisch. Auch Grünebergers eigener Vater war fünf Jahre lang in russischer Gefangenschaft.

Im Buch “Herbstjahr” finden sich ebenfalls Spuren seines eigenen Lebens wieder. Der Roman handelt von den Ereignissen im Herbst 1989 aus der Sicht einer jungen Frau, die die Schauspielschule besuchen will. Wie die Protagonistin hat auch der Autor mal für die Schauspielschule in Leipzig vorgesprochen. Grüneberger erinnert sich, dass er die Kommission mit etwas Ausgefallenem beeindrucken wollte. Er zitierte einen Monolog aus dem Stück „Ritter, Tod und Teufel“ seines Großvaters, der Dramaturg war. Darin sinniert der Sekretär eines russischen Großfürsten über dieses und jenes. Das Skurrile: Die Geliebte des Sekretärs, die sich zuvor das Leben genommen hatte, hat er in seinem Koffer dabei. „Die in der Kommission waren total überrascht”, erzählt Grüneberger und lacht. Obwohl er die Prüfung bestand, schlug er den Weg des Schauspielers schlussendlich nicht ein. „Ich hatte dann doch mehr die Ambitionen, zu schreiben.” Der Autor spricht sich seine geschriebenen Dialoge übrigens laut vor: „Ich muss ja wissen, wie es klingt.” Immerhin ist sein Credo: „Ein Roman ist ein bisschen wie eine Bühne.”

Wenn Ralph Grüneberger sich an einen neuen Stoff heranwagt, skizziert er zunächst den Lebenslauf der Protagonisten. Er versucht, eine Struktur zu schaffen, schmeißt Passagen auch wieder weg, wenn sie sich nicht in die Handlung fügen und er kennt stets das Ende der Geschichte. „Ich schreibe auf den Schluss zu”, sagt er klipp und klar. Und der sollte in der Regel kein Happy End sein. Zumindest nicht, wenn der Autor mit seinem Text an einem Wettbewerb teilnehmen will. Grüneberger weiß: „Die Leute in Jurys wollen nie was Harmonisches am Ende.”

Der Schriftsteller schreibt am liebsten, wenn er „außer Haus“ ist. Für seine Projekte bekam er schon diverse Stipendien, die ihm die Zeit verschafften, sich auf ein neues Werk zu konzentrieren. 2020 etwa war er Gast des Freundeskreises der Künstlerwohnung in Soltau. An „Herbstjahr“ schrieb er auch 2017 im Wendland. Dort quartierte er sich bei einer Autorenkollegin ein. „Ihre Bedingung war, dass ich nachmittags immer etwas vorlesen soll”, erinnert er sich. Im Gegenzug gab es freie Kost und Logis. Die letzten 60 Seiten des Buchs schrieb Grüneberger in der Stadt Pécs in Ungarn. Hier bekam er ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen.

Das geschriebene Wort hat Grünebergers Leben bisher bestimmt. Er schrieb in den vergangenen Jahren auch dutzende Gedichte, Essays und Rezensionen und war bis vor Kurzem Vorsitzender der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik, einem Leipziger Verein. „Langweile kenne ich nicht”, sagt der Autor – und das glaubt man ihm auch. Neben den drei Romanen tüftelte Grüneberger in der jüngsten Zeit auch noch an einem Sachsen-Reiseführer, der jetzt veröffentlicht wurde. Dort versammelt er seine 50 Lieblingsplätze im Freistaat. Ursprünglich wollte er einen Leipzig-Kunstführer schreiben. Doch sein Verlag teilte mit, dass die Nachfrage dafür nicht groß genug sei. Stattdessen nahm der Schriftsteller nun Sachsen in den Blick und seine besonderen Orte – von Torgau bis Görlitz.

Grüneberger versucht neben den bekannten Highlights ein paar Geheimtipps in den Führer zu packen. „Orte, die noch nicht so abgeklappert sind”, sagt er. Nur wenigen ist etwa das Gellert-Museum in Hainichen oder das Ringelnatz-Geburtshaus in Wurzen bekannt. Auch die Krostitzer Brauerei findet im Buch ihren Platz. Weil er auch die Fotos liefern musste, reiste Grüneberger in den vergangenen Jahren viel durch den Freistaat. Seine beiden wichtigsten Erkenntnisse: „Sachsen ist riesengroß.” Und: „Das Wetter ist nicht immer optimal für ein gutes Foto.” Ein Kleinod, das er unterwegs entdeckte, ist der sorbische Friedhof in Ralbitz in der Nähe von Kamenz. Der Besucher trifft dort – statt pompöser Grabmale – auf ein Feld voller schlichter weißer Holzkreuze. „Das hat mich fasziniert, weil es die Nivellierung von Arm und Reich bedeutet”, sagt Grüneberger. Noch mehr Besonderheiten finden sich im zweiten Teil des Buchs: In diesem widmet sich der Autor besonderen Brücken in Sachsen – seiner neuesten Leidenschaft.

Apropos neue Projekte: Gleich zwei davon hat der umtriebige Schriftsteller derzeit in der Hand und will monatsweise zwischen beiden wechseln. „Ich bin ein bisschen hin- und hergerissen”, gibt er zu. Das Thema Wendejahre ist erst einmal ad acta gelegt. Der Herbstjahr-Roman soll 20 Jahre später eine Fortsetzung erfahren. Die neue Handlung setzt 2008 in der Weltwirtschaftskrise ein und schildert den Lebensweg der drei Protagonisten sowie ihre Erlebnisse zum 20. Jubiläum des Mauerfalls. Auch ein dritter Teil der Geschichte ist geplant, der irgendwann den Abschluss bilden soll. Diesen will Grüneberger in der Coronazeit verorten. „Das will ich auch noch erzählen, aber dafür habe ich jetzt noch nicht den richtigen Abstand”, erklärt er.

Das zweite aktuelle Roman-Projekt, an dem der Schriftsteller parallel arbeitet, hat er bereits 2017 angefangen. Dieser Roman handelt von Grünebergers Großvater, dem Dramatiker, dessen Stücke in den 20er-Jahren auch in Leipzig aufgeführt wurden. Die Handlung spielt in dieser Zeit und im Jahr 1946. Da kommt Grünebergs Vater gerade aus sowjetischer Gefangenschaft wieder nach Leipzig. Erst in diesem Jahr lernen sich sein Großvater und sein Vater kennen. Denn der Vater – unehelich geboren – wächst bei der Tante auf. Der Großvater weiß nichts von seinem Sohn und erfährt erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von ihm. „Das ist eine Familiengeschichte, die an sich schon tragisch ist”, findet Grüneberger, der seinen Großvater selbst nie persönlich kennen gelernt hat. Dieser stammte aus Brasilien, studierte in Deutschland, kehrte 1927 nach Südamerika zurück und reiste bis zu seinem Tod nie in die DDR. „Er schickte uns immer grünen Kaffee, der musste nicht verzollt werden”, erinnert sich der Autor und erzählt, dass er schon als Dreijähriger mit den Bohnen ins benachbarte Café Richter laufen musste, wo diese geröstet wurden. Geblieben sind ihm vom Großvater nur einige Bücher und ein handschriftlicher Brief. Ein Überbleibsel einer bewegten Familiengeschichte. Der Autor hat inzwischen selbst einen erwachsenen Sohn und einen neunjährigen Enkel.

Wenn beide Manuskripte irgendwann fertig sind, bekommt diese zuerst Grünebergers Frau zu lesen. „Sie ist eine strenge Leserin und sehr kritisch”, sagt er. Erst dann geht der Stoff ans Lektorat des Verlags. Nächtelang durchschreiben – sowas habe er früher gemacht, erzählt der Schriftsteller. Heute könne er das nicht mehr. „Ich kann mich nur zwei Stunden lang konzentrieren”, sagt er. Da bleibt noch genug Zeit, das Rentnerleben ein bisschen zu genießen. Grüneberger geht gern ins Konzert, kocht zu Hause und hält sich einmal pro Woche bei der Wassergymnastik fit.

Wenn er sich etwas wünschen könnte, wäre das ein zentraler Treffpunkt für Autoren in der Stadt. Zu DDR-Zeiten saß er oft im Künstlercafé im Coffeebaum. „Das war ein Privileg, um sich mit Lektoren zu treffen”, erinnert er sich. Monatlich wechselten die Ausstellungen zu verschiedenen Schriftstellern. „Ich wünschte mir, dass es sowas wieder gäbe.” Und ansonsten steht auf seiner Wunschliste noch eine Reise in das gar nicht so weit entfernte Prag, seiner persönlichen Lieblingsstadt. „Da will ich unbedingt mal wieder hin.” Gina Apitz

Ralph Grüneberger hat im Rahmen von “Leipzig liest trotzdem” am 17. März, 17 Uhr eine Lesung im Hotel Seeblick. Der Eintritt ist frei. Die Premiere des Sachsenreiseführers findet am 26. März um 15 Uhr im Göschenhaus in Grimma statt. Am 22. April wird 19 Uhr in der Leipziger Galerie KUB in der Kantstraße Grünebergers neuer Roman ”Lisa, siebzehn, alleinerzogen” vorgestellt.

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