Leipzig. Die wichtigste Erfahrung hatte er zeitig genug gesammelt – die Erfahrung, dass man sich gern auch mal Zeit lassen und Zeit nehmen muss. Das klingt durchaus bemerkenswert, wenn man sich das auf den ersten Blick schier rastlose Leben von Gerhard Pötzsch mal anschaut: Vom Häftling wegen „versuchtem ungesetzlichen Grenzübertritts“ ging es noch zu DDR-Zeiten an das Leipziger Literaturinstitut, nach der Wende in den Stadtrat der Messestadt und von dort mittenrein ins Unternehmertum als Radiomacher. Irgendwie immer mit dabei die Literatur, der er in den letzten Jahren sein Hauptaugenmerk widmet. „Alle zehn Jahre habe ich mein Leben komplett umgekrempelt“, überlegt der inzwischen 69-Jährige und ergänzt mit einem Lächeln: „Aber jetzt wird ein solcher Wechsel nicht mehr stattfinden.“
Doch, das ist wirklich bemerkenswert – diese Ruhe, die Gerhard Pötzsch ausstrahlt, die Gelassenheit und Ausgeglichenheit. Irgendwann kommt mal ein Satz, der aufhorchen lässt. „Ich bin ungeeignet zu hassen. Dieses Gefühl ist mir fremd.“ Dabei wären da schon ein paar Punkte, an denen man über das Gefühl von Hass nachdenken könnte, in der Rückschau. Aber selbst wenn es darum geht, dass er sich einst als 16-Jähriger plötzlich unter Verbrechern im Knast wiederfand und dies allein ob des persönlichen Freiheitsdrangs, bleibt er gelassen und vor allem ruhig. Im Gegenteil, da schwingt ein tiefes Bedauern mit, wenn die Rede auf die Deutsche Demokratische Republik kommt – sauer ist Gerhard Pötzsch, der bis zum heutigen Tage zu den linken Ideen steht, eigentlich nur über eins: „Dass dieses Modell auf eine derart piefige Art und Weise gescheitert ist, dass eben dieses Modell nicht mehr diskussionsfähig ist.“
Es war – wie schon gesagt – der Freiheitsdrang, der ihn einst als jungen Menschen so in die Bredouille gebracht hatte. Die Idee des Rauswollens, des Rausmüssens, ein Gefühl, das sich schnell einstellte im heimischen Leipzig. Dann blitzt er mal kurz auf, der Hader mit dem DDR-Regime, „das uns das Erleben der Welt verwehrt hat. Weil es eben doch ein großer Unterschied ist, ob man die Stadt Rom als 18-Jähriger oder erst mit 40 Jahren sehen kann“. Und auf einmal ist man mittendrin in einer spannenden Debatte über das „Linkssein“, über das Problem mit Marx, der das Wort „Diktatur“ ja schon eingepflegt hatte in seine Theorien und den Gegensatz zu Vorstellungen von Michael Bakunin (herrje, den Namen hatte man schon seit Jahrzehnten nicht mehr gehört), der in die ganz andere Richtung von anarchistischen Freiheiten wollte. „Doch, diese Ideen und Theorien interessieren mich schon“, sagt er wieder mit einem Lächeln, um dann über die Endlichkeit der Dinge zu philosophieren: „Da fängt man gerade an, Zusammenhänge zu begreifen und schon lässt die Kraft nach, es auch wirklich zu tun.“ Was für ein Punkt …
Aber auch einer, der einen zum Selbstverständnis des Autors Gerhard Pötzsch führt. Denn gerade diese Erkenntnis der Endlichkeit der Dinge lässt eines erkennen: „Man braucht Hilfestellung, die einen gerade auch als jungen Menschen durch diese Phase des Suchens und Orientierens führt – sei es durch Wissenschaft, Literatur oder auch Religion. Als junger Bursche kam ich durch Zufall an die Literatur.“ Die Geschichte dazu ist auch beinahe literaturreif, vom Nachbarn, der den kleinen (und da redet man wirklich von klein im gerade mal zweistelligen Alter) Gerhard mit drei Bänden Schiller – nun ja – geradezu fütterte. Auch wenn sich nicht alles, was da stand, vollständig erschließen mochte, das Saatkorn war gepflanzt. „Ich bin unglaublich dankbar, dass mich diese Lotsen so geleitet haben“, sagt er nachdenklich. Und spricht über unstillbare Neugier, die daraus erwachsen ist. Bis zum heutigen Tag – auch wenn diese sich manchmal ein wenig zu tarnen versteht: „Ich bin von Natur aus faul – deshalb finde ich, man muss erst einmal zugucken, um zu wissen, wie es geht.“
Da ist sie dann wieder, diese Idee vom Zeitlassen, vom Zeitnehmen. Ein ziemlich wichtiges Stückchen Lebensphilosophie von Gerhard Pötzsch, ausgesprochen hilfreich beim Älterwerden. „Erst wenn man weiß, wer man selbst ist und man sich dementsprechend mit sich selbst auseinandergesetzt hat, dann kann man sich auch selbst aushalten“, überlegt er. Wobei dieses Wissen darum, dass er sich selbst ganz schön gut aushalten kann, prima beim „aktuellen“ Leben als Schriftsteller hilft. Das ist ja schon ein einsamer Beruf, pardon, eine einsame Berufung. „Und auch ein wenig egomanisch“, sagt er wieder mit einem breiten Lächeln: „Aber das halte ich aus.“ Wieder geht ein Blick zurück, in die eigene Jugend: „Ich musste früh lernen, mich selbst auszuhalten. Und ja, ich bin auch dankbar, all diese Erfahrungen zu sammeln – auch wenn die alles andere als schön waren im Knast. Aber ich wurde als junger Mensch schnell erwachsen und versuchte damals beispielsweise zu begreifen, dass auch Verbrecher Menschen sind.“ Nach einer kleinen Pause folgt die poetische Beschreibung: „Der Teufel ist ein gefallener Engel.“
Mitgenommen hat er diesen tiefen Humanismus, gepaart mit dem unstillbaren Freiheitsdrang, der Neugier und der ebenso unersättlichen Lust an der Literatur. Was sicherlich den Mut gab für die Achterbahnfahrt des Lebens, von der man schon sprechen kann. Mit geradezu absurden Kapiteln wie jenem, dass Gerhard Pötzsch der Weg aus dem Knast ans Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher gehen sollte. Was auch wieder Kopfschütteln hervorruft, dieser „DDR-Feudalismus, wenn man auf einmal einen Gönner hatte, der einen gefördert hatte“. Dabei blieb er in der Eigenwahrnehmung eher zurückhaltend: Die Kritik mit Blick auf das eigene Frühwerk – befeuert von den Erlebnissen in der Jugend – fällt schon ganz schön vernichtend aus: „Ich habe schnell gemerkt – das ist Mist. Die Maßstäbe an mich selbst sind echt hoch und mir war klar, dass ich noch lernen musste.“ Andererseits sorgte die Literatur als Ventil dafür, dass aus Gerhard Pötzsch eben „kein verbitterter Antikommunist“ geworden ist. Wieder schwingt Dankbarkeit mit …
Alle zehn Jahre ein Bruch: Ja, dieses Lebensmotto – eigentlich rein zufällig als Muster entstanden – ist klar zu erkennen. Als die DDR endete, steckte er als freischaffender Autor mittendrin im Kulturbetrieb. Plötzlich begannen die „wilden Jahre“. „Ich war in keiner anderen Organisation als im Anglerverband. Und ich konnte mir nie vorstellen, mal in eine Partei zu gehen“, doch mit dem Herbst 1989 war alles anders; Gerhard Pötzsch in der SPD, pardon, in der SDP, so hieß ja damals das DDR-Pendant der Sozialdemokraten und als Stadtrat mittendrin statt nur dabei. „Ich wollte nie ein Berufspolitiker werden, aber in den Stadtrat bin ich aus purer Überzeugung gegangen“, mit dem Wissen, dass es eben Menschen braucht, die sich engagieren. In der Rückschau überwiegt – mal wieder – die Dankbarkeit: „Eine irre spannende Zeit: Da wurden viele Strukturen angelegt, die bis heute ihre Berechtigung haben.“ Der Wermutstropfen: „Schade, dass irgendwann die Sachpolitik hinter die Ideologie zurückgetreten ist.“
Zeit für den nächsten Bruch: Gerhard Pötzsch als Kapitalist, als Unternehmer, als (privater) Radiomacher in vorderster Reihe – eigentlich kaum vorstellbar, aber wahr. Ach, da war sie wieder, die Neugier. „Ich wollte unbedingt wissen, wie der Kapitalismus funktioniert. Und als die Frequenzen für private Radiosender ausgeschrieben wurden, haben wir uns einfach beworben“, prompt kam der Zuschlag und auf einmal stand er an der Spitze von Energy Sachsen. Als Geschäftsführer natürlich, was anderes kam nicht in Frage: „All diese Wendungen und Brüche waren nur drin, weil ich immer der Chef war.“ Und dann ergänzt er: „Es war stets das, was ich tat – das zu machen, was ich wollte. Ich mochte mir nie sagen lassen, was ich zu tun oder zu lassen hatte.“ Spannend: Auch dieser Sprung ins kalte Wasser glückte, der Schwimmreflex war sofort da – aber nach unzähligen Tassen Kaffee, ebenso vielen Zigaretten und den obligatorischen zehn Jahren auch die Erkenntnis: „Es war gut. Es siegte das Bedürfnis nach Literatur, nach dem Lesen und Schreiben.“
Gut so, wie der vor einiger Zeit erschienene Roman „Zwischenzeitblus“ zeigt, quasi als Fortsetzung der Lebens-Trilogie des literarischen Alter Egos Bernd Klapproth, die vor gut sechs Jahren mit „Taschentuchdiele“ begann. Ein Gesamtwerk, das ebenfalls aus einer wichtigen Erkenntnis erwuchs: „Dann spürte ich: Jetzt bis du soweit. Die ein oder andere Stelle in dem, was du schreibst, ist das, was du dir unter Literatur vorstellst.“ Wobei der Titel mit dem Blues-Verweis einen neuen Blick auf Gerhard Pötzsch freigibt – der Blick auf den Musikfan, der bei den richtigen Klängen eine Gänsehaut bekommt: „Das Genre ist egal, nur kommt diese Gänsehaut im Alter immer seltener“, da schwingt ein wenig Wehmut mit, erst recht, wenn er davon erzählt, sein letztes Gänsehaut-Erlebnis bei Kurt Cobain gehabt zu haben. Aber das Lebensgefühl, das sind hinter den Klängen verbirgt, ach, das vergeht eh nie …
Nach dem Buch ist vor dem Buch. Klar. Eine Trilogie benötigt einen dritten Teil und mal ganz abgesehen davon wäre diese wilde, stürmische Nachwendezeit allemal eine literarische Aufarbeitung wert. Wobei es gerade nicht die Zeit zum Schreiben ist, verrät Gerhard Pötzsch: „Erst wenn das schlechte Wetter losgeht, zieht es mich an den Schreibtisch.“ Im Sommer ist die Natur viel zu verlockend, das Beerensammeln und Pilzesuchen, gern auch das Angeln (ja, dem Anglerverband ist er treu geblieben). Das Kontrastprogramm zur Literatur, zum Schopenhauer, der immer in Griffweite liegen muss: „Wenn man in einen richtigen Wald kommt, spürt man körperlich, wie man zur Ruhe kommt.“ Schade ist eigentlich nur eines: Es fehlt das direkte Feedback. „Dieser Moment, in dem man sein Buch vorstellt und die Reaktionen der Leute beobachten kann – dass dies alles nach dem Erscheinen von ’Zwischenzeitblues’ Ende letzten Jahres nicht ging, ist schon ärgerlich“, sagt er ruhig, gelassen und nachdenklich: „Man will ja schon, dass die Menschen da draußen wahrnehmen, was man macht.“ Jens Wagner
Das Buch „Zwischenzeitblues“ von Gerhard Pötzsch ist bereits im Mitteldeutschen Verlag erschienen. Am 24. September ist der Schriftsteller ab 18 Uhr mit seinem neuen Buch im Leipziger Schillerhaus zu Gast.