Leipzig. Fremdenführer, Kabarettist und Radio-Mann – dem Tausendsassa Karsten Pietsch ist in seinem Leben schon viel Kurioses widerfahren.
Im Moment fühlt er sich, coronabedingt, wie auf hoher See, lässt seinen Gedanken an Erlebtes, Künftiges, freien Lauf und sieht Licht am Horizont, erzählt Karsten Pietsch. Der gelernte Wirtschaftskaufmann, der schon mit elf Jahren zum Kindersprech-Ensemble von Radio DDR gehörte, später am Schauspielhaus als Statist mitmischte, in „Pension Schöller“ zigmal den Löwenjäger Fritz Bernhardy spielte, leidenschaftlich gern als freier Journalist für das MDR-Sachsenradio mit dem Mikro unterwegs ist, mit sächsischem Mutterwitz Kabarett spielt und schließlich auf seine große Liebe stieß: die Historie Leipzigs. Inspiriert dazu hat ihn der bekannte Leipziger Maler Werner Tübke.
Ich serviere Karsten Pietsch eine Tasse mit meinem frisch gebrühten Kaffee – und er erzählt mir, wie ihn das Panorama in Bad Frankenhausen beeindruckt hat. „Seitdem befasse ich mich mit dem Mittelalter, der Reformation, Lotter, Luther, Leipzig, nenne es kurzum Studium des Lotterismus.“ Und damit ist seine platonische Liebe zu Lotter im Gespräch. Dem in Leipzig 50 Jahre lang tätigen Ratsherrn, Baumeister und Bürgermeister Hieronymus Lotter, der sich unter anderem große Verdienste mit dem Alten Rathaus, der Alten Waage, der Pleißenburg, der Moritzbastei erwarb.
Badehaus und Lotterbett
Seit gut 20 Jahren schlüpft Karsten Pietsch nun in dessen Rolle, macht was her in dem Kostüm, das ihm Gewandmeisterin Jutta Bissinger auf den Leib schneiderte. Und er entführt auf sehr unterhaltsame Weise Gäste, Touristen, auch Leipziger, ins Lotterleben des 16. Jahrhunderts, macht Fakten, Daten, Geschichten lebendig. Er weiß auch manch „Delikates“ zu berichten. So, dass Lotter auch ein fischelanter Kaufmann war und kaum in Leipzig angekommen, schon strafrechtlich verfolgt und damit urkundlich erwähnt wurde. Beim Tanzen soll er eine Dame so gedreht haben, dass ihr Knie unter dem Kleid hervorschaute. Das kostete Bußgeld. Und: Dem Ratsherrn gehörte ein eigenes Badehaus, erwähnt in der Turmknopfurkunde und auch nachzulesen im Minibüchlein „Badehaus und Lotterbett“, dem dritten aus Karsten Pietschs Feder rund um den Lotter. Und wer weiß, vielleicht kommt bald das vierte – über Touristen-Kommentare von seinen Führungen.
Karsten Pietsch lacht, sagt, dass ihm das aufmerksame Publikum viel Spaß macht und er dabei selbst auch seinen Horizont erweitert. „Es ist schon peinlich, wenn Du eine Frage nicht beantworten kannst. Wie im vorigen Jahr – da wollte, als wir bei den Thomanern waren, eine Münchnerin wissen, ob sich in den 800 Jahren schon einmal ein Mädchen als Junge verkleidet in den Knabenchor geschmuggelt hat. Heute weiß ich, dass darüber nichts bekannt ist.“
Astronaut bei Lotter
Besonders schön ist immer, mit Familien und mehreren Generationen unterwegs zu sein oder mit Prominenten, wie mit dem Astronaut Ulf Merbold und dem russischen Botschafter, erzählt Karsten Pietsch. Oder mit einer Sportminister-Delegation aus Angola, die Teilnehmer sprachen perfekt deutsch, sie hatten am Leipziger Herder Institut studiert. In Pietschs Dankeschön-Sammlung liegen die Medaille eines Bundeswehr-Generals, Souvenirs von Reisegruppen, Fußball-Fan-Schals…
Spaß auf Augustusburg
Auch im Auerbachskeller hält Lotter Hof, plaudert aus der Schule über seinen Nachbarn Heinrich Stromer, den Gründer des Kellers, über Luther, Faust, Goethe. Einen Heidenspaß gab es auch bei seinem Treffen mit dem Kurfürsten August und seiner Anna auf der Augustusburg. „Man muss wissen,“ erzählt Karsten Pietsch, „dass Lotter einst die Augustusburg baute, dafür 15 000 Gulden erhalten sollte, die ihm der Kurfürst schuldig blieb.
Vor etwa tausend Zuschauern spielten wir diese wahre Begebenheit nach, bei der Lotter nun großzügig auf die Gulden verzichten würde, wenn man ihm das ganze Erzgebirge übereigne.“
Kreativ im Lockdown
Neben Lotter hat der 55-jährige Leipziger auch den fliegenden Händler, das Leipziger Original Oscar Seifert, auf dem Schirm, unterhält bei Festen und Feiern und findet damit Beifall. Wie im alten Schulzimmer des Museums auf Schloss Frohburg. Da unterrichtet er in Anzug und Zylinder über alkoholische Gärung. Weil so beliebt, gibt’s bald eine zweite Schulstunde zu technischen Raffinessen.
„Endlich geht es wieder los“, freut sich Karsten Pietsch, dass die ersten Projekte derzeit wieder anlaufen. „Die Leute wollen wieder gemeinsam etwas erleben“, hat er festgestellt. Die Stadtspaziergänge im Stadtgeschichtlichen Museum und außerhalb finden jeden 1. und 3. Sonntag im Monat statt. Auch in Auerbachs Keller hat Pietsch wieder öffentliche Auftritte in historischem Gewand.
„Ach, bald hätte ich’s vergessen, kannst Du bitte die Gästeführerin Christa Schwarz erwähnen. Sie fragte mich damals im Ratskeller vor gut 20 Jahren, als sie mich als Ratsherrn erlebte, warum ich nicht den Lotter gebe. Dafür sage ich noch heute Danke.“ Traudel Thalheim