Leipzig. Die Vision ist gewaltig: Das „Gleisdreieck“ im Leipziger Süden soll der Hotspot in Sachen Musik und Kunst in der Messestadt werden. Mit Clubs, einer Konzerthalle, Proberäumen, Ateliers, Büroräumen auf runden 12.000 Quadratmetern, dazu Open-Air-Eventflächen – ein Projekt, das nicht nur in Leipzig Aufmerksamkeit erregt hat. Nun geht es an die Umsetzung: Der Grundbucheintrag zugunsten der Leipziger Club- und Kulturstiftung ist seit gut einem Jahr da, jetzt wurde ein umfassender Beteiligungsprozess gestartet – digital natürlich.
Kein Wunder, dass „Distillery“-Chef Steffen Kache – seines Zeichens Impulsgeber für das Vorhaben „Gleisdreieck“ und entsprechend eingebunden in die Club- und Kulturstiftung – im Laufe dieser digitalen Veranstaltung schon mal einräumt: „Ja, wir sind schon ein wenig größenwahnsinnig.“ Aber es lohne sich unbedingt, bei diesem Vorhaben gern auch mal ein wenig größer zu denken, weil hinter dieser Idee in allererster Linie ein positiver Gedanke steckt: „Wir haben keine Angst vor der Zukunft, vielmehr wollen wir die Zukunft gestalten.“
Das ist durchaus eine bemerkenswerte Aussage – eigentlich könnte er doch irgendwie Angst vor der Zukunft haben. Denn dieses Projekt „Gleisdreieck“ ist nicht irgendwie als Luftschloss entstanden, sondern aus purer Notwendigkeit heraus: Die „Distillery“ – immerhin der älteste Techno-Club in den neuen Bundesländern – stand am gewohnten Standort in der Leipziger Südvorstadt vor dem Aus; ein Schicksal, dass sie mit dem „TV Club! – auch eine Institution im Bereich der traditionsreichen Studentenclubs der Messestadt – teilte. „Wir müssen dem Betongold weichen“, bringt es Steffen Kache auf den Punkt. Immerhin: Diese Entwicklung wurde in Leipzig nicht so kommentarlos hingenommen, vielmehr gab es durchaus den Rückenwind aus der Stadtverwaltung, den es auch brauchte für diese Vision, die im Verlauf der letzten Jahre entstanden ist. Etwa mit einem Beschluss des Stadtrates, in dem man sich ausdrücklich zum Erhalt der Clubkultur ausgesprochen hatte.
Auftritt „Gleisdreieck“: Das Gelände am ehemaligen Bahnkraftwerks zwischen Arno-Nitzsche-Straße, Zwickauer Straße und Richard-Lehmann-Straße kristallisierte sich rasch als „einzige Chance, die Clubs zu erhalten“ heraus. Und weil offenbar alle Beteiligten am Strick in die gleiche Richtung zogen, passierte eine ganze Menge: Im Jahr 2019 formierte sich die Leipziger Club- und Kulturstiftung, bereits im Herbst konnte das angepeilte Gelände von der Deutschen Bahn gekauft werden und mit dem Grundbucheintrag im Frühjahr 2020 steht fest: „Das kann uns nicht mehr weggenommen werden“, stellt Steffen Kache fest und weist auf einen Punkt hin: Mit diesem Kauf durch die Stiftung sei künftig auch keine Spekulation mit dem Gelände mehr möglich.
Dafür liegen nun viele Pläne für eine Nutzung als Zentrum von Musik, Kunst und Kultur auf dem Tisch. Da wird es dann auch mal ein wenig sentimental, wenn Steffen Kache erzählt: „Schon in den 90er Jahren haben wir überlegt, alle Akteure in Leipzig, die mit Musik zu tun haben, mal unter einem Dach zusammenzubringen.“ Und alle meint wirklich alle: Musiker natürlich in Proberäumen, daneben gleich Auftrittsmöglichkeiten in Clubs und in einer Konzerhalle, dazu noch die Labels und Bookingagenten. Etwas, das es in dieser Form wohl nicht noch einmal gibt: Die komplette Musikwirtschaft gebündelt an einem festen Platz. Und der ist allemal da: „Wir haben fünfmal mehr Platz im Gleisdreieck, als wir mit den beiden Clubs benötigen.“ Wodurch sich die Tür öffnet in Richtung Kunst …
Damit aus dieser Vision Wirklichkeit werden kann, hat man nun einen umfassenden Beteiligungsprozess gestartet (nicht zu verwechseln übrigens mit der öffentlichen Beteiligung nach einem Bebauungsplan). Der Ansatz: Allen zuhören, denn genau genommen soll das „Gleisdreieck“ auch für alle da sein – generationenübergreifend beispielsweise. Eines lässt sich nach dem digitalen Startschuss sagen: Der Bedarf für einen solchen Hort von Musik, Kunst und Kultur scheint unbedingt vorhanden – Interessenten waren unter den zwischen 150 und 170 Teilnehmern jede Menge dabei. Und es wird schon noch der ein oder anderen Stein aus dem Weg zu räumen sein – die Bruchstellen „Anwohnerkonflikt etwa mit den benachbarten Kleingärtnern“ und „Was wird eigentlich mit der Verkehrserschließung“ sind schon deutlich zu erkennen. Immerhin – das Großdenken geht auch da weiter. Inklusive Brückenbau zur Erschließung und eigener S-Bahn-Haltestelle.
Für entsprechende Transparenz, auch dafür, dass möglichst viele Meinungen gehört werden soll die neue Institution „Bausonntag“ sorgen. Immer am letzten Sonntag im Monat, vor Ort auf dem Gleisdreieck. Die Einladung von Steffen Kache dazu: „Etwa zur Verkehrserschließung gibt es konkrete Pläne, die man bei dieser Gelegenheit einsehen kann.“ Und seine Stiftungsmitstreiterin Maxi Blunck ergänzt: „Alle Ergebnisse und Anregungen im Beteiligungsprozess werden dokumentiert und auf die Machbarkeit geprüft.“
Bleibt noch der Blick in die Glaskugel: Wie könnte sie aussehen, die Zukunft im „Gleisdreieck“? Auf jeden Fall ist das Projekt eine echte Hausnummer, der Investitionsbedarf wird von Seiten der Club- und Kulturstiftung auf rund 20 Millionen Euro geschätzt. Alles auf einmal werde wohl nicht gehen, sagt Steffen Kache, „wenn man einigermaßen realistisch bleibt, ist ein Umzug der beiden Clubs wohl nicht vor Ende 2023 drin“. Und eines will er ebenfalls noch unterstreichen: In der Perspektive soll sich das „Gleisdreieck“ finanziell mal selbst tragen – nach dem Motto „Die Stärkeren unterstützen die Schwächeren“. Nun, die Musikerinnen und Musiker dieser Stadt dürfte freuen, dass da dennoch von „Mieten, die auch leistbar sind“, gesprochen wird: „Nicht 15 Euro der Quadratmeter, sondern fünf oder sechs.“ Jens Wagner
Infos: www.gleisdreieck-leipzig.de und www.clubstiftung-leipzig.de. Der erste Bausonntag im Gleisdreieck findet am 30. Mai von 10 bis 13 Uhr statt.