Alles im Blick: Karsten Poitz kennt das Gewandhaus nach fast 40 Jahren wie seine Westentasche. Foto: Andreas Neustadt

Leipzig. Beim Blick auf ein Foto aus früheren Jahren huscht ein Schmunzeln durch das Gesicht von Karsten Poitz. „Lang ist es her“, sagt der 65-Jährige, als er sich das fast 40 Jahre alte Schwarz-Weiß-Foto mit allen Gewandhaus-Mitarbeitern in einem Gang im Leipziger Gewandhaus betrachtet und auf sich selbst mit dichtem lockigen schwarzem Haar und dichtem Bart hinweist.

Am 1. April hat sich Karsten Poitz in den Ruhestand verabschiedet. Ein bisschen Wehmut schwang kurz vor dem Abschied aus dem Gewandhaus schon mit. Kein Wunder: schließlich hätte er im September die 40 Jahre „voll gemacht“ – zuerst als Orchesterwart, dann nach einer weiteren Ausbildung als Bühnenmeister und seit der deutschen Wiedervereinigung als Leiter des Betriebsbüros, das er selbst strukturiert hat. Es waren 40 Jahre, in denen Karsten Poitz das Gewandhaus mit aufgebaut und dabei alle Höhen und Tiefen des weltweit renommierten Konzerthauses miterlebt hat. Und natürlich kennt er das Gewandhaus längst wie seine Westentasche. Seine letzte Spielzeit hat sich Karsten Poitz natürlich ganz anders vorgestellt. Schließlich hat die Corona-Pandemie auch das Gewandhaus seit etwa einem Jahr voll im Griff. „Seit Beginn der Pandemie gab es eine Absage nach der anderen. Deshalb haben wir im vergangenen Jahr unglaublich viel für die Tonne gearbeitet. Das war natürlich unglaublich schade, weil wir ein tolles Programm vorbereitet hatten“, erklärt er und fügt schmunzelnd an: „Es war allerdings auch erstaunlich, dass ich ohne Wochenend- und Feiertagsdienste ausgekommen bin.“ Die waren in den vergangenen fast 40 Jahren schließlich Standard in der Arbeitswoche von Karsten Poitz. Einen klassischen ‚9-17 Uhr’-Job hatte er sich nie vorstellen können, im vergangenen Jahr „hat’s aber trotzdem funktioniert.“ Als Leiter des Betriebsbüros sorgte Karsten Poitz in den vergangenen Jahren im Hintergrund für einen reibungslosen Ablauf aller Veranstaltungen – von der Zusammenarbeit mit den Künstleragenturen, über die Einmietung der nationalen und internationalen Künstler und die Organisation des Proben- und Veranstaltungsbetriebes bis hin zur Unterbringung der Künstler inklusive Rundum-Wohlfühlpaket. Natürlich kümmerte sich der gebürtige Meißner auch um die Sonderwünsche der Stars. „Ich habe im Hintergrund die Fäden gezogen. Wenn die Leute von meiner Arbeit nichts mitbekommen haben, hab ich alles richtig gemacht“, fasst er den Arbeitsalltag der vergangenen Jahre kurz und bündig zusammen. Vor einigen Jahren hatte der Hobby-Sportler, der vor allem in der Natur Kraft tankt, seine Arbeit in einem Interview mit einer Sanduhr verglichen: „In den oberen Teil der Sanduhr kippen alle ihre Anforderungen an das Gewandhaus hinein. Der schmale Hals ist das Betriebsbüro. Wir versuchen, das alles zu strukturieren und verteilen es dann weiter.“

Der Weg von Karsten Poitz ins Gewandhaus war alles andere als vorgezeichnet. Nach einem Lehramtsstudium für Deutsch und Geschichte, das ihn Mitte der 1970er Jahre nach Leipzig geführt hat, arbeitete er in einer Schule in Mölkau als Deutsch- und Geschichtslehrer. Doch nach drei Jahren war Schluss, weil sich auf seinen Stimmbändern Knötchen gebildet hatten und er den Lehrerberuf, in dem er ohnehin nicht besonders zufrieden war, damit nicht mehr ausüben konnte. In seiner Unzufriedenheit sieht er auch einen Grund für die damalige Erkrankung. „Das, was ich nach den Vorgaben des damaligen DDR-Volksbildungsministeriums vermitteln sollte, hatte nicht mit meinem Verständnis für Pädagogik zusammengepasst. Das hat wahrscheinlich auch mein Körper gespürt und sich dagegen gewehrt“, erinnert er sich. Nach einigen Angeboten des Volksbildungsministeriums, die für ihn aber nicht in Frage kamen, bewarb sich Karsten Poitz beim Gewandhausorchester für den Posten des Orchesterwarts. Die Stelle trat er im September 1981 an. „Ich war schon damals ein großer Fan klassischer Musik. Deshalb hat mich dieses Stellenangebot auch sehr gereizt. Schon während des Studiums war ich sehr oft Gast im Gewandhaus. Dass zu diesem Zeitpunkt dann die Stelle im Gewandhaus frei war und ich den Zuschlag bekommen habe, war eine glückliche Fügung“, erinnert er sich. Wenige Wochen nach seinem Arbeitsbeginn folgte die Eröffnung des Gewandhauses am heutigen Standort auf dem Augustusplatz (früher Karl-Marx-Platz). Als Orchesterwart bereitete Karsten Poitz die Konzerte des Gewandhausorchesters vor, und sorgte dabei für einen reibungslosen Ablauf – und das nicht nur in den Konzerthäusern der DDR, wie er noch heute schwärmt: „Ich war mit dem Gewandhausorchester unter anderem vier Wochen in den USA unterwegs. Das war für mich ein sensationelles Erlebnis. Für einen DDR-Bürger war das unvorstellbar. Ich habe in diesen vier Wochen unglaublich viel gesehen.“ Es sollte bis zur Wiedervereinigung allerdings die einzige Reise „in den Westen“ sein. „Nachdem ich wieder zuhause war, kam die Stasi und hat zu meinem Chef gesagt, ‚der Poitz fährt nicht mehr’. Für dieses Reiseverbot habe ich aber bis heute keine Erklärung bekommen.“

Wie für alle anderen Menschen war die „unheimlich spannende Wendezeit“ die nächste Zäsur für Karsten Poitz – nicht nur wegen der Wiedervereinigung. Ende September 1989 wurde er Vater. Kurze Zeit organisierte er die bekannten „Dialoge am Karl-Marx-Platz“. „Bei einem dieser Dialoge waren zwischen 2000 und 3000 Besucher im Hauptfoyer des Gewandhauses. Als dabei einer der Besucher rief, ‚wir wollen Pressefreiheit’, lief es mir kalt den Rücken herunter. Das war einer von vielen emotionalen Momenten, die mich noch heute begeistern“, erinnert sich Karsten Poitz. Doch nach den großen Emotionen der Wiedervereinigung, kam aber auch im Gewandhaus eine Zeit der Ernüchterung. „Die Besucherzahlen brachen ein. Plötzlich kamen verschiedene Agenturen zu uns und wollten das Gewandhaus mieten. Das kannten wir aus der DDR nicht. Durch die neuen Anforderungen, haben wir ab 1991 das Betriebsbüro aufgebaut – ‚learning by doing’. Wir haben alles organisiert, was mit Vermietung zu tun hat“, wirft er einen Blick in den Rückspiegel. Im Laufe der Zeit habe es wieder eine Unmenge von Veranstaltungen gegeben, und es wurden immer mehr. Damit stieg auch die Zahl der beeindruckenden Gänsehaut-Momente – wie das ausverkaufte Konzert des us-amerikanischen Pianisten Keith Jarrett vor einigen Jahren. „Ganz besonders beeindruckend war für mich aber die Erkenntnis, dass Künstler auch nur Menschen sind, die mit ihren Bedürfnissen wahrgenommen werden wollen“, sagt Karsten Poitz: „Außerdem habe ich immer wieder zu spüren bekommen, dass das Gewandhaus für jeden Künstler – auch außerhalb Deutschlands – etwas ganz Besonderes ist.“ Unzählige Gewandhaus-Momente hat er für immer in seinem Herzen gespeichert.

Vor allem in den vergangenen Monaten habe er unheimlich viele positive Zuschriften bekommen, dass er die erfolgreiche Entwicklung des Hauses in den vergangenen fast 40 Jahren entscheidend mitgeprägt hat. „Mit solchen Lobes-Hymnen tu ich mich allerdings schwer. Ich bin mehr ein Teamplayer. Das hat mir meine Mutter schon frühzeitig eingepflanzt. Ohne die vielen tollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätte ich sicher nichts bewirken können“, sagt er: „Ich hatte das Glück, die Anfänge des Gewandhauses erlebt zu haben und viele neue Ideen in die Entwicklung des Hauses einbringen zu können.“ Neben dem Aufbau des Betriebsbüros war das unter anderem auch die Einführung einer digitalen Veranstaltungsplaung für die verschiedenen Gewerke Mitte der 1990er Jahre, der damals eine echte Revolution war. Und während Karsten Poitz die vergangenen Jahrzehnte noch einmal Revue passieren lässt, ist dann doch so etwas wie Wehmut in seinem Gesicht zu erkennen. „Die Veranstaltungsdichte wurde von Jahr zu Jahr größer. Vor der Corona-Pandemie hatten wir bis zu 700 Veranstaltungen. Die Eventisierung hat in dieser Zeit enorm zugenommen. Die unheimliche dichte Belegung des Hauses in den vergangenen Jahren war eine Art der Überhitzung. Durch Corona sind wir von 120 auf 0 gebremst worden“, erklärt er. Für die Zeit des Ruhestandes hat sich Karsten Poitz bereits einiges vorgenommen. „Ich habe nie ein Instrument gespielt. Das möchte ich jetzt nachholen.“ Und natürlich will er auch dem Gewandhaus treu bleiben – als Besucher. Wenn es denn die Entwicklung der Corona-Infektionszahlen zulässt. Andreas Neustadt

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